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Literaturgeschichte im Dienst des Nationalismus
Genauer betrachtet, ist diese Neugermanistik in zwei Schritten entstanden. Ein erster Schritt wurde in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts getan, wo die ersten großen „Geschichten der deutschen Nationalliteratur“ entstanden. Die bekannteste und einflußreichste von ihnen stammt aus der Feder von Georg Gottfried Gervinus und ist in 5 Bänden von 1835 bis 1842 erschienen. Literaturgeschichtliche Arbeiten hat es natürlich auch vor dem 19. Jahrhundert schon gegeben, aber keine, die sich ausschließlich der Darstellung der deutschen Literatur widmeten, die ausschließlich Geschichte einer deutschen „Nationalliteratur“ sein wollten. Derlei hat vorher schon allein deshalb nicht interessieren können, weil die Literatur der Antike, die Werke der alten Griechen und Römer, bis zum Ende des 18. Jahrhunderts als eine unentbehrliche Grundlage des literarischen Lebens galten. Über sie wollte man zunächst und vor allem informiert sein, wenn man sich mit Literatur befaßte.
Außerdem empfanden sich die Literaten und die meisten von denen, die sich mit Literatur beschäftigten, bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, bis hin zu Goethe und seinem Kreis, als Kosmopoliten, als „Weltbürger“, also als Menschen, denen die deutsche Literatur nicht unbedingt näher und wichtiger wäre als die große Literatur der alten Griechen und Römer und der modernen Italiener, Engländer, Franzosen und Spanier, als Homer und Vergil, Dante und Petrarca, Shakespeare, Cervantes und Rousseau. Dieses literarische Weltbürgertum war hinterfangen von der aufklärerischen Vorstellung vom „Allgemein-Menschlichen“, von dem Glauben an die natürliche Gleichheit aller Menschen. In der Literatur wollte der literarische Weltbürger vor allem dem Allgemein-Menschlichen begegnen.
Das hat sich gerade in der Zeit zwischen 1770 und 1830 geändert. Die aufklärerische Vorstellung vom Allgemein-Menschlichen, von der allgemeinen Menschennatur wurde hier mehr und mehr vom Nationalismus, vom Gedanken der Nation als Dominante des kulturellen Lebens überlagert, wenn nicht vollends beiseite gedrängt. Man verstand sich nun nicht mehr in erster Linie als aufgeklärter Weltbürger, sondern als guter Deutscher, so wie jenseits der Grenzen als guter Franzose, als guter Engländer.
Moderner Nationalismus und Französische Revolution
Der moderne Nationalismus, wie er unter anderem das Konzept der Nationalliteratur hervorbrachte, erlebte seinen Durchbruch in
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der Französischen Revolution. 4Die Revolutionäre waren ja nicht nur Sozialrevolutionäre, sondern auch glühende Nationalisten; das wird gerne vergessen. Von der Französischen Revolution und ihren Folgen wird hier immer wieder zu handeln sein. Sie bezeichnet das wichtigste geschichtliche Ereignis der Epoche. Sie hat die Menschen und insbesondere die Literaten unausgesetzt beschäftigt, von ihren Anfängen 1788/89 über die „Terreur“, die Schreckensherrschaft der Jahre 1793/94, die Herrschaft Napoleons, die Napoleonischen Kriege und die Besetzung weiter Teile Deutschlands durch die Franzosen nach der Schlacht von Jena und Auerstedt (1806) bis hin zu den sogenannten Befreiungskriegen von 1812/13 und zum Wiener Kongreß von 1814/15, mitsamt all den sozialen Umbrüchen und politischen und weltanschaulichen Debatten, die mit ihr einhergingen. Eine der Folgen der Französischen Revolution war nun eben der Durchbruch des modernen Nationalismus.
Die Revolution als Krise der Modernisierung
Schon darin wird greifbar, daß die Französische Revolution nicht nur ein politisches Ereignis ersten Ranges war, sondern auch eine Kulturrevolution, eine Umwälzung des kulturellen Lebens von kaum zu überschätzender Bedeutung. 5Sie machte mit ihren politischen und sozialen Aktivitäten noch der letzten Schlafmütze in Europa auf die drastischste Weise klar, daß Europa in eine Dynamik der Modernisierung eingetreten war. So wurde sie zum Anlaß, erneut und intensiver als je zuvor über die Eigenart, die Ursachen und die Folgen solcher Modernisierung nachzudenken.
Was aber heißt Modernisierung? Es heißt zunächst und vor allem: Umgestaltung der Lebensverhältnisse auf der Basis des Fortschritts der Wissenschaften, Verwissenschaftlichung der Welt im Namen des gesellschaftlichen Fortschritts. Und das wiederum bedeutet, daß die überkommenen Lebensverhältnisse, an die die Menschen gewöhnt sind, nicht einfach fortgeschrieben werden; daß sich viele der überkommenen, traditionellen Bindungen lockern, in die sich die Menschen bis dato hineingestellt wußten, Bindungen, die einerseits zwar
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ihre Bewegungsfreiheit begrenzen, die ihnen andererseits aber auch Sicherheit und Orientierung geben, Bindungen wie die an einen Stand, einen Beruf, eine Region oder eine Kirche. Die Menschen werden mehr und mehr in eine umfassende soziale Mobilität hineingerissen, sie steigen auf und ab auf der sozialen Leiter, sie wechseln oder verlieren ihre Konfession und Religion, wechseln ihre „Weltanschauung“, sie verlassen ihre Heimat, ihre Familie und ihren Beruf und ziehen dahin oder dorthin.
Zu dieser Modernisierung des Lebens und Mobilisierung der Menschen gehört wesentlich mit dazu, was die Soziologie als Pluralismus und Individualismus beschreibt. Pluralismus meint, daß Menschen unterschiedlicher Religion, Konfession oder Weltanschauung und unterschiedlicher Herkunft, Menschen, die die verschiedensten Lebensstile praktizieren und die unterschiedlichsten Lebensziele verfolgen, in ein und derselben Gesellschaft nebeneinander leben und zusehen müssen, daß sie so, wie sie die Dynamik der Modernisierung durcheinandergewirbelt hat, miteinander auskommen können. Und Individualismus bedeutet, daß sich in dieser Dynamik der Modernisierung und Pluralisierung der Lebensformen für jeden Einzelnen die Möglichkeit eröffnet, einen eigenen Weg zu gehen, sich eigene Ziele zu setzen und sich seiner besonderen Individualität gemäß an einer „Selbstverwirklichung“ zu versuchen.
Das alles ist natürlich im 18. Jahrhundert schon längst im Gange, vorangetrieben vor allem von der Bewegung der Aufklärung, aber es gewinnt im Zeitalter der Französischen Revolution doch eine neue Qualität, insofern die Gesellschaft hier in einem zuvor noch nie dagewesenen Maße in Bewegung gerät: Könige, Adlige und Kirchenfürsten verlieren ihren Kopf und ihr Vermögen, einfache Soldaten steigen in den Adel, ja bis zum Kaisertum auf, und mancherorts wird sogar die christliche Religion von Staats wegen abgeschafft.
Modernisierung und Nationalismus
Eben hier liegen nun auch die Quellen des modernen Nationalismus, wie er sich seinerzeit überall in Europa Bahn brach. Mit seiner Hilfe sollte irgendwie Ordnung in die Dynamik der Modernisierung gebracht werden, sollte die neue Mobilität gebändigt, sollten der neue Pluralismus und Individualismus begrenzt und die Kräfte der Bindung des Einzelnen an das Gemeinwesen gestärkt werden. Während des gesamten 19. Jahrhunderts haben sich die europäischen Gesellschaften
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darin geübt, die immer neuen Modernisierungsschübe und Modernisierungskrisen mit Hilfe des Nationalismus zu bestehen. 6Und so ist es bis weit ins 20. Jahrhundert hinein geblieben, und ist es in manchen Weltgegenden heute noch immer. Selbst in Deutschland sammeln sich die Modernisierungsverlierer, diejenigen, die der Dynamik der Modernisierung nicht gewachsen sind, zum Teil noch immer unter der Fahne des Nationalismus und suchen die Mobilität der Moderne, ihren Pluralismus und Individualismus zu begrenzen, indem sie rufen: Deutschland den Deutschen, Ausländer raus!
Ideengeschichtliche Voraussetzungen des modernen Nationalismus
Das alles hat im Zeitalter der Französischen Revolution begonnen. Die theoretischen Grundlagen dafür, daß der nationale Gedanke nun zu einer Dominante der Kultur wurde, sind freilich bereits im 18. Jahrhundert geschaffen worden. Hier ist vor allem an den Begriff des „Volksgeists“ zu denken, wie er von dem französischen Schriftsteller Montesquieu (1689–1755) in seiner Abhandlung über den „Geist der Gesetze“ („De l’esprit des lois“) von 1748 entwickelt worden ist. Montesquieu erklärt die Tatsache, daß die Staaten der verschiedenen Nationen – der Griechen, Römer, Italiener, Spanier, Franzosen, Engländer, Deutschen – verschiedene Verfassungen, verschiedene „Gesetze“ haben, mit einem je anders gerichteten „esprit de la nation“; dieser soll für die Unterschiede verantwortlich sein, die der Kultur der verschiedenen Nationen ihre besondere Gestalt verleihen, und damit wie ihren Staaten, ihren Verfassungen, ihren „Gesetzen“, so auch ihrer Kunst und Literatur.
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