Unterwerfung der Natur, Unterwerfung der natürlichen Triebe des Menschen unter die ratio, ein rational kontrolliertes Leben, ein rational veranstalteter Fortschritt, und in diesem Sinne Vervollkommnung des Einzelnen wie der Gesellschaft, „Perfektibilität“, Fortschritts- und Geschichtsoptimismus – das sind bis heute beliebte Stichworte, wo es um die Aufklärung geht. 3Von der ratio her habe man am Glück der Menschheit arbeiten wollen, an allen Abgründen des Menschen
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und allen Abgründen der Geschichte vorbei. So kann man es etwa in der „Dialektik der Aufklärung“ (1947) von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno lesen, und bei ihnen hat sich gerade die Germanistik in den letzten Jahrzehnten immer wieder über das 18. Jahrhundert belehren wollen.
Aber Adorno und Horkheimer haben nur wenig vom 18. Jahrhundert verstanden; sie sprechen, wo sie die Aufklärung in den Blick nehmen, im Grunde von der positivistischen Wissenschaftskultur des 19. Jahrhunderts. Die Aufklärer des 18. Jahrhunderts waren weniger Rationalisten als vielmehr „Naturalisten“. Wenn sie denn überhaupt einen Kult betrieben haben, dann war das ein Kult der Natur und kein Kult der Vernunft. Wo immer sie zur Sache kommen, wo immer sie auf das zu sprechen kommen, was für sie das Wesentliche ist, da erscheint in ihren Texten an zentraler Stelle der Begriff der Natur, und auch wo es nicht um Wesentliches geht, bei allem und jedem heißt es bei ihnen: Natur, Natur, Natur! 4So haben sie sich zum Beispiel in der Theologie um natürliche Gottesbegriffe bemüht, in der Philosophie um die allgemeine Menschennatur und um eine natürliche Ethik, in der Wissenschaft um die Naturerkenntnis, im staatlichen Leben um die Geltung des Naturrechts, und in der Kunst und Literatur um das Prinzip der Naturnachahmung, der imitatio naturae, der mimesis. Die Dichtung sollte nun weniger Kunst sein – Kunst im Sinne von Künstlichkeit – als vielmehr etwas Natürliches, sie sollte irgendwie „Naturpoesie“ sein.
Und die Natur steht für die Aufklärer eben über der menschlichen Vernunft, sie übersteigt für sie immer schon die Möglichkeiten der Vernunft. In diesem Sinne haben sie durch das ganze 18. Jahrhundert hindurch an einer Kritik der Vernunft gearbeitet, wie sie Kant dann gegen Ende des Jahrhunderts in seinen großen Kritiken zusammenfaßt, haben sie sich überall darum bemüht, der Vernunft ihre Grenzen aufzuzeigen, zumal dort, wo sie sich zu großen „Systemen“ versteigt, die das Ganze der Welt erklären wollen. 5„The most ingenious way of
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becoming foolish, is by a system“, heißt es schon bei dem frühen Aufklärer Shaftesbury, 6und noch Goethe warnt davor, die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Natur „zu einer systematischen Form“ zu treiben (HA 13, 20). Die Natur soll der Vernunft zwar zugänglich sein, insofern sie nach Gesetzen funktioniert, die der Verstand einsehen kann, aber sie soll zugleich über alles hinausreichen, was die Vernunft sich jemals wird denken können. So daß für den Menschen der richtige Weg nur sein kann, der Natur zu folgen, auf sie zu hören, sich an sie anzuschließen, sich mit seinem Leben und Denken in sie einzupassen: vivere secundum naturam; in Worten eines anderen frühen Aufklärers, Alexander Pope: „Take Nature’s path, and mad Opinion’s leave“ (PE IV, 29), in Worten des deutschen Autors Wieland: „Laßt uns (…) der Natur folgen; einer Führerin, die uns unmöglich irre führen kann“. 7Wer sich die Natur allen Ernstes würde unterwerfen, sie theoretisch und praktisch würde beherrschen wollen, der würde unweigerlich bei Krampf und Gewalt enden. Das ist Aufklärung.
Aufklärung als Verbindung von „Kritizismus“ und „Naturalismus“
Wir haben also nun ein zweites Lieblingswort der Aufklärer neben dem Wörtchen „kritisch“, das Prädikat „natürlich“, und eine zweite Maxime neben der, die in den Dikta „sapere aude“ und „nil admirari“ zum Ausdruck kommt, die Maxime „vivere secundum naturam“. Es ist ein sicheres Indiz dafür, daß man einen Text der Aufklärung vor sich hat, wenn man auf die Kombination der beiden Prädikate „kritisch“ und „natürlich“ trifft, nicht weniger sicher, als wenn man auf Begriffsoppositionen wie Natur versus Meinung, Natur versus Vorurteil oder Natur versus Aberglauben trifft.
Die Aufklärer sind zunächst einmal kritische Menschen; sie nehmen das, was ihnen überliefert ist, nicht einfach unkritisch hin, wollen die Überlieferung kritisch durchleuchten. Die Basis ihrer Kritik, das Fundament, von dem aus sie das Überlieferte ins Auge fassen, um es gegebenenfalls als schlechte Gewohnheit, als bloße Meinung, als Vorurteil und Aberglauben abzuqualifizieren, ist vor allem das, was sie Natur
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nennen; sie stellen sich auf den Boden der Natur. Was aber heißt: auf dem Boden der Natur? Es heißt: auf dem Boden der Erfahrung. Natur ist, was man erfahren kann, was man sinnlich wahrnehmen, sehen, hören, riechen, schmecken, ertasten, erfühlen, erleben kann, und dann mit seinem Verstand verarbeiten und mit seinem Gedächtnis festhalten; Erfahrung ist, was man sich in der Auseinandersetzung mit der Natur erwirbt. Kritik an der Überlieferung heißt hier mithin, das Überlieferte auf den Prüfstand der Erfahrung stellen, und das wiederum heißt: auf den Prüfstand der Natur; und dabei kann es sich dann eben als wahr oder falsch erweisen. Die erste, wichtigste Quelle des Wissens ist für die Aufklärer anders als für die Humanisten nicht mehr das, was in altehrwürdigen Büchern steht, sondern die Erfahrung.
Individualisierung und Geniekult
Mit diesen Begriffen von Natur und Erfahrung ist ein weiterer Begriff eng verknüpft, der der Emanzipation. Mit Emanzipation ist hier der Weg des einzelnen Menschen, des Individuums weg von der Bindung an Autoritäten, Traditionen und Konventionen hin zu einem offenen Raum gemeint, in dem er ein Leben nach eigener Wahl, ein selbständiges, selbstbestimmtes Leben führen kann. Zu einer Erfahrung gehört ja immer ein Mensch, der sie macht, ein Individuum als Subjekt dieser Erfahrung, ein Ich, dem die betreffende Erfahrung zuteil wird. Da muß ein Subjekt sein, das wahrnimmt, sieht, hört, fühlt, erlebt, das sich etwas dabei denkt, das das Wahrgenommene und Bedachte als richtig und wichtig, wahr und sinnvoll bewertet, das es in seinem Gedächtnis abspeichert und gegenüber anderen für es eintritt – ohne Subjekt keine Erfahrung. In dem Maße nun, in dem die Erfahrung wichtiger wird als die Überlieferung, wenn nicht gar zum Maß aller Dinge, vollzieht sich zugleich eine Aufwertung des Individuums als des unentbehrlichen Trägers des Erfahrungmachens, und damit eine Aufwertung alles Individuellen. Mit der Abkehr von der Autorität der Überlieferung im Setzen auf die Natur und die Erfahrung geht die Emanzipation des Individuums Hand in Hand. So ist das 18. Jahrhundert auch das Jahrhundert gewesen, in dem der moderne Individualismus erstmals sein Haupt erhoben hat. In Worten Wielands: die „Natur (…) will, daß ein jeder Mensch seine eigene Person spiele“. 8
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Ein zentraler Schauplatz für die Erkundung der neuen Bedeutung des Individuums ist das Nachdenken über das Genie gewesen. Durch das ganze 18. Jahrhundert hindurch hat man sich immer wieder mit dem Begriff des „Originalgenies“ auseinandergesetzt, so sehr, daß eine bestimmte Phase der literarischen Entwicklung in Deutschland, die Phase des „Sturm und Drang“, auch „Geniezeit“ genannt werden konnte. 9Aber der Begriff des Genies ist hier nicht nur ein Thema der Kunst; letztlich bezeichnet er einen entscheidenden Zugang zu dem neuen Bild vom Menschen, das die Aufklärung entworfen hat, zu ihrer Anthropologie. Das Genie ist das große Paradigma des neuen Individualismus. An ihm wird studiert, welche Dimensionen die Eigenart und die Bedeutung des Individuums annehmen kann; das zeigt eben der Bestandteil Original im Begriff des Originalgenies. Die Taten des Genies lassen erkennen, in welchem Maße sich die Erfahrungen, in denen dem Menschen seine Welt aufgeht, der Individualität und Subjektivität dessen verdanken, der da Erfahrungen macht und von ihnen Zeugnis ablegt.
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