Das 18. Jahrhundert ist nun sowohl für das genetische als auch für das kontrastive Interesse, sowohl für Identitäts- als auch für Alteritätsfragen besonders aufschlußreich, insofern es sich bei ihm um eine „Sattelzeit“ handelt, um die Zeit, in der sich die Genese der modernen Welt vollzogen hat. Die meisten der großen und kleinen Schritte, die damals in Richtung auf die modernen Verhältnisse zu unternommen worden sind, kristallisieren sich aber um einen einzigen Begriff: um den der Aufklärung. Das 18. Jahrhundert ist das Jahrhundert der Aufklärung. Von dieser Aufklärung hat man sich also zunächst und vor allem Rechenschaft zu geben, wenn man in die Literatur der Zeit eindringen will. Und so sei als erstes versucht, sich hiervon einen Begriff zu machen, einen ersten Begriff, einen Vorbegriff, der sich dann bei der Auseinandersetzung mit den Zeugnissen des 18. Jahrhunderts zu bewähren und zu bestätigen hat.
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1.2 Modernisierung im 18. Jahrhundert: Aufklärung
Aufklärung als Modernisierung
Was man im Rückblick auf das 18. Jahrhundert Aufklärung genannt hat, war eine große geschichtliche Bewegung, die sich eine Reform aller menschlichen Dinge auf die Fahnen geschrieben hatte, eine Reform der gesamten Kultur von den Formen, in denen sich das menschliche Denken und Wissen organisiert, über die Strukturen, in denen der Einzelne lebt, arbeitet und sich mit anderen austauscht, bis hin zur Organisation der Gesellschaft als ganzer, und die damit in der Tat nach und nach alle Bezirke des menschlichen Lebens erreichte und durchdrang.
Vorangetrieben wurde sie von einer durchaus überschaubaren gesellschaftlichen Gruppe, die sich eben damals neu formierte und die man heute die Intellektuellen nennt. Sie selbst und ihre Zeitgenossen hatten für sie allerdings noch einen anderen Namen; sie sprachen von ihr als von den „Philosophen“. Wie ihre Vorgänger, die frühneuzeitlichen Zirkel gelehrter Humanisten, war die Gruppe der „Philosophen“ bereits bestens vernetzt, standen alle, die ihr angehörten, in einem Austausch, der so eng und intensiv war, wie ihn die Verkehrsformen der Zeit nur irgend zuließen. Anders als die Humanistenzirkel bestand sie freilich nicht nur aus der Elite der Gelehrsamkeit, aus Theologen, Philosophen, Philologen und anderen Vertretern einer gelehrten Bildung, sondern auch aus interessierten Laien, aus Literaten, Publizisten, Pädagogen, höheren Beamten und all den anderen „Standespersonen“, die sich die Bildung der Bevölkerung und die Entwicklung der Gesellschaft zur Aufgabe machten. Die Intellektuellen haben die Aufklärung gemacht, und die Aufklärung hat die Intellektuellen gemacht.
Diese „Philosophen“ haben nun eben nach und nach den Begriff der Moderne entwickelt, von dem aus sich unsere heutige Gesellschaft als moderne Gesellschaft definiert. Was aber heißt modern? Von Modernität sprechen wir immer dann, wenn etwas Altes, Herkömmliches, Überliefertes, Traditionelles, Altgewohntes durch etwas Neues ersetzt worden ist, wenn an ihm ein Akt der Modernisierung vorgenommen worden ist, in dem Bestreben, mit dem Anspruch, die Sache besser zu machen als vorher, einen Fortschritt zu erzielen. Das setzt natürlich voraus, daß man zuvor einen kritischen Blick auf das Alte, Herkömmliche, Überlieferte, Traditionelle, Altgewohnte geworfen
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hat, einen Blick, dem es sich eben als veraltet, überholt und überholungsbedürftig, als verbesserungsbedürftig darstellt. Nichts kann eine Gesellschaft wie die unsere deutlicher als eine moderne Gesellschaft kennzeichnen, als daß sie alles Alte immer schon unter den Generalverdacht stellt, veraltet zu sein und der Modernisierung zu bedürfen.
Entwicklung eines kritischen Verhältnisses zur Überlieferung
So weit, so modernisierungsfreudig, so fortgeschritten und fortschrittsversessen waren die Aufklärer des 18. Jahrhunderts freilich noch nicht. Aber sie haben nach und nach ein Klima geschaffen, in dem es zunächst überhaupt möglich und dann auch üblich wurde, sich kritisch mit Überlieferung und Tradition zu beschäftigen, und in dem so der Weg hin zu Neuem freigemacht wurde, in dem der Begriff modern insofern einen positiven Klang bekam. Aufklärung bedeutet im 18. Jahrhundert zunächst und vor allem: Entwicklung eines kritischen Verhältnisses zur Überlieferung, Emanzipation von der Autorität der Tradition. Das kann man schon äußerlich daran erkennen, daß das Wort „kritisch“ ein Lieblingswort aller Aufklärer gewesen ist.
Eines der wichtigsten Dokumente der frühen Aufklärung ist der „Dictionnaire historique et critique“ (1697), das Historisch-kritische Lexikon des Franzosen Pierre Bayle (1647 –1706), ein Werk, das im 18. Jahrhundert mehrfach ins Deutsche übersetzt worden ist – unter anderem von Gottsched, unter Beteiligung seiner Frau und des jungen Gellert – und das überall in Europa, oder jedenfalls doch in allen Ländern, die von der Aufklärung erreicht worden sind, zu einem Grundbuch der Bildung geworden ist, ein Werk, das sich im Bücherschrank eines jeden fand, der an der Aufklärungsbewegung teilhatte, bis hin zum Vater von Goethe. Da werden mit der Systematik eines Lexikons die Bestände der kulturgeschichtlichen Überlieferung zunächst historisch gesichtet und sodann kritisch auseinandergenommen: historisch-kritisches Lexikon. Solche Kritik will aufdecken, was an der Tradition bloß schlechte Gewohnheit, bloß Meinung, Aberglauben und Vorurteil ist. Der Aufklärer streitet mit seiner Kritik gegen das, was er Meinung, Aberglauben und Vorurteil nennt.
Es wurden damals übrigens auch Lehrbücher der Poesie geschrieben, denen der Name einer Critischen Dichtkunst gegeben wurde, unter anderem von Gottsched (1730) und Johann Jakob Breitinger (1740). Unter diesem Titel versuchten die Autoren eben mit all dem aufzuräumen, was für sie bloße Meinungen und Vorurteile in Sachen
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Literatur waren. Und dieser Kritizismus kulminierte in den großen Kritiken des Philosophen Immanuel Kant: „Kritik der reinen Vernunft“ (1781), „Kritik der praktischen Vernunft“ (1788), „Kritik der Urteilskraft“ (1790). Da wird die Kritik ins Prinzipielle gewendet, nämlich auf die kritisierende Vernunft selbst bezogen, als Selbstkritik der kritisierenden Vernunft.
Glaubst du denn: von Mund zu Ohr
Sei ein redlicher Gewinst?
Überliefrung, o du Tor,
Ist auch wohl ein Hirngespinst!
Nun geht erst das Urteil an.
Dich vermag aus Glaubensketten
Der Verstand allein zu retten,
Dem du schon Verzicht getan. (HA 2, 48 –49)
So klingt das alles bei Goethe. Goethe ist ein in der Wolle gefärbter Aufklärer gewesen, und er ist es geblieben bis ins hohe Alter, und das heißt: bis weit ins 19. Jahrhundert hinein; es handelt sich bei den zitierten Versen nämlich um ein Gedicht aus einem seiner Alterswerke, dem lyrischen Zyklus „West-östlicher Divan“ von 1819. Überlieferung, so wird da gesagt, ist immer eine problematische Sache; worauf es ankommt, ist, nicht fraglos auf dem Weg der Anpassung in die Überlieferung einzurücken, sondern das eigene kritische Urteil zu bemühen, das Wagnis und die Arbeit des Selbst-Urteilens auf sich zu nehmen. sapere aude, wage zu wissen, lautet demgemäß ein immer wieder beschworenes Motto der Aufklärung; an seiner Stelle und in ähnlicher Funktion trifft man auch häufig auf ein Diktum von Horaz: nil admirari, nichts (unbesehen) bewundern.
Säkularisation und „Querelle des Anciens et des Modernes“
Aufklärung als Entwicklung eines kritischen Verhältnisses zur Überlieferung, als Emanzipation von der Autorität der Tradition. Wenn wir verstehen wollen, was das im 18. Jahrhundert konkret bedeutet hat, dann müssen wir uns vergegenwärtigen, was seinerzeit die wichtigsten Mächte der Tradition waren, die gegenüber den Menschen ihre Autorität zur Geltung brachten, autoritativ in das Leben der Menschen hineinwirkten, und auf welche Weise, mit welchen Mitteln sie das
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