Eine praktische Aufgabe der Sprachwissenschaft ist es u.a., die Konventionen der Sprachen zu erklären, die Erklärungen zusammenzufassen und sie Sprachbenutzern zugänglich zu machen. Für die Sprachzeichen mit referenzieller Bedeutung geschieht dies in Wörterbüchern. Die anderen sprachlichen Zeichen sind dort nur zum Teil erfasst; sie werden zusammenfassend in Grammatiken beschrieben. Wir wenden uns im Folgenden zunächst den referenziellen Zeichen zu, die im Wörterbuch beschrieben werden. Die gebräuchlichsten Wörterbücher sind semasiologisch ausgerichtet, d.h. sie listen – normalerweise in alphabetischer Folge – signifiants auf und geben dazu Erläuterungen, u.a. zum signifié. Diese Bedeutungserklärungen bilden den Gegenstand des folgenden Kapitels.
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10 Bedeutungsbeschreibungen im Wörterbuch
Lexikalische Semantik
Das Saussuresche Zeichenmodell sieht außerordentlich einfach aus. Es soll die Zuordnungsbeziehungen zwischen signifiants und signifiés darstellen, die in ihrer Gesamtheit im Wörterbuch einer Sprache aufzufinden sind. Wie wir schon bei der Übersicht über die sprachwissenschaftlichen Teildisziplinen festgestellt haben, bildet die Beschreibung der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke den Gegenstand der Semantik. Mit der Untersuchung der Bedeutung von Lexikoneinheiten wenden wir uns der lexikalischen Semantik zu. Schauen wir uns nun einmal an zwei Beispielen an, wie die Bedeutungsangaben in Wörterbucheinträgen aussehen.
Wir sehen am Textbeispiel 11 unmittelbar, dass die Verhältnisse offenbar viel komplizierter sind, als es das einfache Modell nahelegt (und dass Wörterbucheinträge gar nicht einfach zu lesen sind). Wir wollen die Beispiele nun besprechen und sehen, welche Differenzierungen wir an unserem einfachen Modell vornehmen müssen.
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Textbeispiel 11: Zwei Wörterbucheinträge
1weiß [vajs]: ↑wissen
2weiß [ – ] [mhd. wīʒ, ahd. (h)wīʒ, eigentl. = glänzend]:
1. von der hellsten Farbe; alle sichtbaren Farben, die meisten Lichtstrahlen reflektierend (Ggs.: schwarz 1): w. wie Schnee; -e Schwäne, Wolken, Lilien; -e Wäsche, Gardinen; ein -es Kleid; -e Haare; die -en und die schwarzen Felder des Spielbretts; der Rock war rot und w. gestreift; sie hat strahlend, blendend -e Zähne; die Wand w. tünchen; -es (unbeschriebenes) Papier; -e Weihnachten, Ostern (Weihnachten, Ostern mit Schnee); vor Schreck, Wut w. (sehr bleich) im Gesicht werden; er ist ganz w. geworden (hat weiße Haare bekommen); die Dächer waren über Nacht w. geworden (waren verschneit); der -e Sport (Tennis); -e Blutkörperchen (Med.: Leukozyten); die -e Substanz (Med.: an Nervenfasern reicher, weißlicher Teil des Gehirns u. des Rückenmarks); das Weiße im Ei; Weiß (der Spieler, der die weißen Figuren hat) eröffnet das Spiel; *der Weiße Sonntag (Sonntag nach Ostern [an dem in der kath. Kirche die Erstkommunion stattfindet]; nach kirchenlat. dominica in albis = Sonntag in der weißen Woche [= Osterwoche]; bis zu diesem Sonntag trugen in der alten Kirche die Ostern Getauften ihr weißes Taufkleid); jmdm. nicht das Weiße im Auge gönnen (ugs.: jmdm. gegenüber sehr mißgünstig sein);
2.a) sehr hell aussehend: -er Pfeffer; -e Bohnen; -es Brot (Weißbrot); -es Fleisch (helles Fleisch vom Kalb); er mag -en Wein (Weißwein) lieber als roten; einen Weißen ([ein Glas] Weißwein) trinken;
b) der Rasse der 2Weißen, der Europiden angehörend: die -e Rasse (die 2Weißen);
Weiß [-], das; -[es], -: weiße Farbe, weißes Aussehen: ein strahlendes W.; die Braut trug W.; in W. heiraten
Sack, der: -[e]s, Säcke (als Maßangabe auch: Sack) [mhd., ahd. sac < lat. saccus < griech. sákkos]:
1.a) größeres, längliches Behältnis aus [grobem] Stoff, starkem Papier, Kunststoff o.ä., das der Aufnahme, dem Transport od. der Aufbewahrung von festen Stoffen, Gütern dient: ein voller, leerer S.: drei Säcke [voll] Zucker; drei S. Kartoffeln; einen S. zubinden; Säcke schleppen, stapeln; etw. in einen S. stecken, stopfen, füllen; es ist dunkel wie in einem S. (ugs.: sehr dunkel); er fiel um, lag da wie ein [nasser] S. (salopp: wie leblos); schlafen wie ein S. (salopp: tief u. fest schlafen); R hinein mit S. und Pfeife (Soldatenspr.: drauflos mit allem Drum und Dran); ihr habt zu Hause wohl Säcke an den Türen! (salopp: Aufforderung an jmdn., die Tür zu schließen); Spr den S. schlägt man, den Esel meint man (man tadelt jmdn., meint aber in Wirklichkeit jmdn. anders); Ü ein S. voll Lügen; *den S. zubinden (salopp: ein Unternehmen beenden); *jmdn. im S. haben (salopp: jmdn. gefügig gemacht haben); etw. im S. haben (salopp: einer Sache sicher sein können); jmdn. in den S. stecken (ugs.: 1. jmdm. überlegen sein. 2. jmdn. betrügen); in den S. hauen (salopp: 1. sich entfernen, davonmachen, 2. kündigen; viell. urspr. [nach getaner Arbeit] das Werkzeug in einen Sack tun); in S. und Asche gehen (geh.: Buße tun); mit Sack und Pack (mit aller Habe); S. Zement (salopp: Ausruf des Erstaunens, der Verwünschung; entstellt aus #Sakrament);
b) (landsch., bes. südd., österr., schweiz.) Hosentasche;
c) (landsch., bes. südd., österr., schweiz.) Geldbeutel: keinen Pfennig im S. haben.;
2. (derb, meist abwertend) Mann, Mensch: ein alter blöder S.; ihr Säcke!
3. sackförmige Hautfalte unter den Augen. Tränensack (meist Pl.): Säcke unter den Augen haben;
4. (derb) Hodensack: jmdm. auf den S. fallen (salopp: jmdm. lästig fallen); etw auf den S. kriegen (salopp: 1. eine Rüge erhalten. 2. verprügelt werden. 3. eine Niederlage erleiden); jmdm. auf den S. niesen/husten/treten (Soldatenspr.: 1. jmdn. grob zurechtweisen. 2. jmdn. drillen).
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Mehrere Wörterbucheinträge zum selben signifiant: Homonymie
Beim ersten Beispiel fällt zunächst auf, dass der signifiant weiß zweimal vorkommt, hier versehen mit vorangestellten Zahlen. Der erste Eintrag enthält überhaupt keine Bedeutungsbeschreibung, sondern bloß einen Verweis auf den signifiant wissen, ein Verb, das in der 1. und 3. Person Singular Präsens die Form weiß hat. Dieses Verb hat mit dem Adjektiv weiß, erläutert im zweiten Eintrag, gar nichts zu tun. Es handelt sich um zwei verschiedene Zeichen, deren signifiants zufälligerweise übereinstimmen. Diese Erscheinung nennt man Homonymie (von griechisch homonymos ›gleichnamig‹), und wir können feststellen, dass es Ausnahmen zu der Regel gibt, ein signifiant würde im Geiste unmittelbar einen (und genau einen) signifié hervorrufen. Dennoch müssen wir die Annahme, beide seien miteinander so verbunden wie die zwei Seiten eines Blattes, nicht aufgeben, nur sehen eben manche Blätter von der einen Seite genauso aus wie manche andere. Die Homonymie betrachten wir als eine für das prinzipielle Funktionieren einer Sprache nicht weiter relevante Ausnahme, und im Deutschen kommen Homonyme auch relativ selten vor. Im Französischen dagegen sind sie sehr häufig. Dies hängt vor allem mit den unterschiedlichen orthografischen Systemen der beiden Sprachen zusammen: Die deutsche bildet die Lautung sehr viel getreuer ab als die französische, d.h. im Französischen gibt es sehr viele signifiants, die in ihrer lautlichen Realisierung übereinstimmen, während sie in der grafischen Realisierung verschieden sind. Wenn wir von Homonymie sprechen, sollten wir daher noch genauer unterscheiden.
Homophonie
Wenn die signifiants zweier Zeichen lautlich übereinstimmen, sprechen wir von Homophonie; dabei kann die Schreibung gleich sein wie im Fall von weiß (›blanc‹ – ›sais‹) oder mineur (›Bergmann‹ – ›Minderjähriger‹) oder aber verschieden: Moor (›marais‹) – Mohr (›nègre‹;); sang (›Blut‹) – cent (›hundert‹) – sans (›ohne‹); lave, laves, lavent (verschiedene Formen von laver ›waschen‹); livre, livres, livrent (Singular und Plural von livre ›Buch‹, livre ›Pfund‹ und verschiedene Formen von livrer ›liefern‹).
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