„Alle diese Dinge nun soll der Gesetzgeber in Mustern darlegen und der Gesetzverweser aufsuchen, und wenn er dergestalt alles Nötige aufgefunden, so soll er den Tanz mit der musischen Kunst in Verbindung setzen und so für alle Feste, ja für jedes Opfer den angemessenen Gesang und Tanz verordnen und so diesem Allem eine feste und geheiligte Ordnung geben, dann aber in der Folge sich weder mit dem was zum Tanze, noch mit dem was zum Gesange gehört die geringste Veränderung mehr erlauben, sondern die Gemeinde soll im gleichen Genusse der gleichen Freuden stets unverändert dieselbe bleiben und alle Bürger und in möglichster Gleichheit ein gutes und glückseliges Leben führen.“ 78
Kreativität ist genauso ausgeschlossen wie freie Zeit, über die die Bürger nach Gutdünken verfügen könnten. Die von oben erlassene Ordnung ritualisiert die in Festen und Reigentänzen hingebrachte Zeit ebenso wie Tanzbewegungen und Gesänge. Der Zwang zur Teilnahme verkehrt Freizeit in ihr völliges Gegenteil. Man entfernt alles [<< 58] nicht pädagogisch Wertvolle, das der Eigengesetzlichkeit und der Selbstgenügsamkeit eines Genusses dienen oder gar zur Muße verführen könnte. Dies erstreckt sich sogar auf Tragödie und Komödie. 79Für Platon stehen tragische Dichter und Schauspieler auf der einen und Gesetzgeber und Gesetzesbewahrer auf der anderen Seite: „Dichter in dem gleichen Fache“, aber „Nebenbuhler“ und „Mitbewerber“ bezüglich „des schönsten Dramas“. 80Da die tragische Kunst aber nur einen Trug, etwas Zeitliches und Vergängliches darstellen kann, vermag sie auch nur eine trügerische, falsche und illusorische Schönheit darzustellen, obwohl sie sie hartnäckig als wahr hinzustellen versucht. Die Gesetzgeber und Politiker des idealen Staates dagegen geben die eigentliche Wahrheit, die allgemeine Gerechtigkeit wieder; sie wirken nicht mit im trügerischen Theater, sondern auf der Bühne des Lebens (Lebenstheater), wo jedes ihrer Werke zum faktischen Sein wird. Darstellende Künstler, darunter auch die Dichter, laufen jedoch der Menge nach. Vor ihrem Werk sind alle gleich, ungeachtet ihrer persönlichen Fähigkeiten, und sie urteilen auch so. Wenn Sokrates im Staat den enormen psychologischen Einfluss der öffentlichen Meinung auf jedes einzelne Individuum schildert, wird Theater auch wegen seines Charakters einer Massenkunst abgelehnt, die zum Mitgenießen fremder Leidenschaft und zum Mitleiden führt. Überhaupt hält er Katharsis für gefährlich, weil sie im normalen Leben die Selbstkontrolle aufhebt. Die Tragödie ist absolut zu verwerfen, zur Komödie folgt die Einschränkung, dass es ohne das Lächerliche unmöglich sei, von dem Ernsten einen richtigen Begriff zu erlangen. Soweit sie nur auf das Lächerliche angelegt ist und in Sprache und Gesang, in Tanz und sonstigen Darstellungsmitteln zu diesem Zwecke die „Darstellung unschöner Körper und Gemüter“ zeigt, könne man ihre Darstellung „Sklaven oder gemieteten Fremdlingen“ überlassen. Man soll zwar wissen, wie Komisches zustande kommt, um das Ernste zu schätzen, aber Lächerliches selbst auszuführen muss man vermeiden. 81
Die musischen Künste, insbesondere Tanz und Theater, besitzen schon lange etwas, was die Staatsutopie eines einzelnen Denkers rationalistisch umzusetzen sich erst anschicken will. Diese Künste – seien sie nun beliebt oder nicht, gehören sie zu den menschlichen Grundbedürfnissen oder nicht – sind proteisch, unausgerichtet, sie mäandern. Sie bilden das Gegenteil eines zielgerichteten Entwicklungsprojekts, stören oder verhindern es eher durch ihre Vielgestaltigkeit, weshalb sie auszugrenzen sind. Dafür wird ein eigener Wahrheitsdiskurs entworfen. [<< 59]
Dichter und Darsteller lügen. Die philosophische Rückschau aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. auf den Ablösungsprozess von der oralen Kulturstufe mündet in einem Paradox: Dichtung ist Fiktion mit einem gewissen Wahrscheinlichkeitsgrad. Der Dichter teilt nicht unbedingt mit, „was wirklich geschehen ist“, wie es der Geschichtsschreiber tut, sondern eher, „was geschehen könnte“, „das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche“. 82Fiktion ist nun aber genau das, was bisher als „Die-Unwahrheit-Sagen“ oder eben als „Lüge“ bezeichnet wurde. Lügen die nachahmenden Künstler, Dichter und Darsteller? Auf jeden Fall kann das tatsächlich Geschehene, wenn Dichtung Fiktion ist, nicht ihr Maßstab sein. Zwischen dem 8. und dem 4. Jahrhundert diskreditiert die kritische Weltsicht der sich herausbildenden Philosophie und Geschichtsschreibung zunehmend die Dichtung, die man einem Legitimationszwang unterwirft. Durch die physische Anwesenheit des museninspirierten Sängers und den behauptenden Gestus des Rhapsoden schien anfangs die Wahrheit des Gesagten gewährleistet zu sein. Doch zwischen Homer und Aristoteles wandelt sich die Gesellschaftsstruktur, verbreitet sich die Schrift, löst sich die orale Kultur weitgehend auf, bricht sich wissenschaftliche Rationalität Bahn. Der durch die Musen inspirierte Dichter – oder der vom Fuchs inspirierte Äsop – rücken unwiederbringlich in die Vergangenheit. Lesende und Schauende differenzieren zunehmend zwischen faktischer und künstlerischer Wahrheit, die in der Mimesis (Darstellung) von Dichtung und Theater zu finden ist.
Auf den Bühnen werden die dramatischen Dialoge kontrovers geführt. An ihnen sind mehrere Sprecher beteiligt. Wer also hat Recht? Wer vertritt die Wahrheit? Den Dialog wörtlich zu nehmen hätte bedeutet, den Schauspieler mit dem dargestellten Helden zu identifizieren. Dies verhindern aber jene Spezifika der Präsentation, die an eine reflexive Einstellung des Publikums appellieren: das Tragen von Masken, das Spielen sämtlicher Frauenrollen durch Männer, die verfremdende Theatermaschinerie. Sie entrücken die Vorgänge dem, was unmittelbar als wahr anzunehmen ist. Ein Feuerwerk phantastischer Einfälle der Alten Komödie erhebt Irrationalität geradezu zum Prinzip. Vor allem aber: Wie wahr kann eine Dichtung sein, die immer neue tragische Stücke über die immer gleichen mythischen Stoffe zeigt, wobei sich die Innovationen nicht nur wie bei den Rhapsoden in neuen Akzenten und Sichtweisen erschöpfen, sondern auch neue Handlungselemente und neue Figuren erfunden werden?
Je mehr das Wahrheit-Lüge-Schema philosophisch zum Maßstab erhoben wird, desto unüberbrückbarer erscheint der Kontrast zwischen Dichtung und wissenschaftlicher [<< 60] Prosa. Wissenschaft fördert Erkenntnis, Dichtung höchstens Vergnügen. Letztere lügt, Geschichtsschreibung berichtet Wahres. Die Verschiebung erfolgt im 5. Jahrhundert, als in dichter Folge Dramen erscheinen. Tragödien- und Komödienwettbewerbe finden statt, Theater avanciert zur festen Institution der griechischen Polis. Die Theorie spricht von Lüge und die Praxis ignoriert dies. Platon schließt die Dichter aus seinem Staat aus, obwohl sie sich gerade im perikleischen Zeitalter so intensiv um die Verbesserung des Gemeinwesens verdient machen. Später erkennt Aristoteles die Bemühungen der Dramatiker an, aber erst zu einer Zeit, als Drama und institutionalisiertes Theater ihre gesellschaftliche Bedeutung schon einbüßen.
1.5.2 Schauspielkunst als Hilfsdienst für Rhetoren
Um der Schauspielkunst Legitimität zu verleihen, die sie in den Augen des Publikums besitzt, nicht aber in denen der Angehörigen der Elite, wird sie zum Hilfsmittel des Lebenstheaters der Rhetorik erkoren. Theaterspiel erfreut sich in der aristotelischen Poetik – im Vergleich etwa zur Lobpreisung der Tragödientexte – nur geringer Wertschätzung. Demgegenüber fällt auf, welche enorme Bedeutung Aristoteles in seiner Politik und besonders in der letzten Fassung seiner Rhetorik dem Theater zumisst, sofern das Problem der Lenkung und Leitung der öffentlichen Meinung in den Fokus rückt. Im Vergleich zu Platon erfolgt dabei eine nahezu völlige Umkehrung: Theater wird jetzt zum bewusst eingesetzten sozialen Rollenspiel. Aristoteles schreibt im dritten Buch der Rhetorik, es genüge nicht, „dass man weiß, was zu sagen ist, sondern man muss es auch in der rechten Art sagen, und dies trägt viel dazu bei, dass die Rede einen bestimmten Eindruck erweckt“. 83Sachverhalte überzeugen erst im mündlichen Vortrag. Die Menge ist unfähig, die Wahrheit als solche zu erfassen, lässt sich von Meinungen und Leidenschaften leiten und zieht eine scheinbar wahre Lüge der unwahrscheinlichen Wahrheit vor. Deshalb müsse man ihr selbst dann, wenn man ihr die Wahrheit verkünden wolle, diese in die Form des Scheins, des Trugs und der Illusion kleiden. Dazu eignet sich – neben Sophistik und Demagogie – die Schauspielkunst. Die „Machart“ als die eigentliche „Kunst“ muss bewusst verborgen werden und als „natürlich“ erscheinen. 84Die richtige Handhabung dieser Mittel birgt beträchtliche Möglichkeiten; so ist es zum Beispiel realisierbar, „Feinde und Freunde, wenn sie es sind, als solche darzustellen; wenn sie es aber nicht sind, sie dazu zu machen und die, [<< 61] die behaupten, das eine oder andere zu sein, zu widerlegen und die, die zweifeln, ob aus Zorn oder aus Feindschaft etwas geschehen ist, zu der Meinung, zu der man es sich vornimmt, zu bringen“. 85Das heißt, man muss sich nicht an den Verstand, sondern an die Affekte wenden, man muss die Leidenschaften der Menge manipulieren. Theaterspiel ist nicht um seiner selbst willen zu fördern, sondern als Vehikel für eine wirksame Rhetorik.
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