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1.3 Mimus, Phlyakenposse, Atellane und Pantomimus
Die Vorstellung, Theater etabliere sich erst mit der Tragödie, ist der Einfachheit und Eingängigkeit der These sowie der schwierigen Überlieferungssituation für nicht literarisch geprägtes Theater oraler Kulturstufen geschuldet, verschärft durch Systematisierungsbestrebungen der Diskurse, die später minderwertig Subliterarisches ausschieden. Wie sollten auch Phallos-Umzüge sowie die Spottlieder der Dionysien oder die dorische Posse in einer literarischen Wertehierarchie neben den Komödien eines Aristophanes bestehen können? Aus dieser Sachlage resultiert die unentschiedene Verwendung des griechischen Begriffs Mimos sowohl für eine Theaterform als auch als Sammelbegriff.
Der lateinische Ausdruck Mimus bezeichnet eine Theaterform, die sich aus verschiedenen Arten vornehmlich improvisierten Theaters oraler griechischer Kulturtradition speist. Es ist grundsätzlich nicht literarisch orientiertes Theater, besser dokumentierte literarisierte Varianten stoßen hinzu. Der Begriff wird vor allem benutzt, wenn keine weitere Spezifizierung (z. B. dorisch) vorgenommen werden kann, außerdem ist er auch ein Sammelbegriff für Mimen, Joculatoren, Histrionen, Straßenmusikanten. Er gilt also sowohl für die Theaterform als auch für die Ausübenden. Erste griechische Nachrichten stammen aus dem 6. Jahrhundert v. Chr. Frauenrollen werden in der Regel von Frauen gespielt. Bestimmte Formen kommen ohne Masken aus. Ein Mimus kann Maskentheater (Tragödie) – analog zum Satyrspiel – als komisches Nachspiel (Exodium) abschließen. 53Die Themen stammen aus dem Alltagsgeschehen und dem Mythos, der persifliert wird. Seiner Charakteristik nach ist der Mimus durchaus keine originär griechische oder römische Erscheinung. Mimus steht für eine nie völlig klärbare körperbetonte, darunter tänzerisch und musikalisch geprägte Theaterform mit und ohne Wortgebrauch, die einen Gegenpol bildet zu den Theaterformen der Machtbehauptung und Repräsentation. Der Mimus ist in solcher Beziehung parodistisch bis subversiv.
Im Falle des Giftmischermimus wurde eine Textversion überliefert, die eine lebendige Vorstellung von den dramatischen Konflikten und der Spielweise vermittelt. 54Liebe [<< 45] und Sexualität stehen im Vordergrund, aber offen wird auch Kritik an der Sklaverei geübt, vornehmlich an der Privatentscheidung über Leben und Tod anderer Menschen. Scheintod und Wiedergeburt, Verbindung von geschriebenem Text und Improvisation sowie ausgeprägte Situationskomik bilden Merkmale des Mimus, die – besonders bezüglich der römischen Variante – wohl am besten zusammengefasst wurden von Rudolf Rieks:
„Eigentümliche äußere Attribute des Mimus sind: pes planus (ein flacher Schuh), centunculus, ricinium (ein quadratisches Umschlagtuch), der Phallus. Außerdem hören wir von einem besonderen Vorhang, siparium, hinter dem die Schauspieler ihren Auftritt abwarteten. Die römischen Mimen, wenn man von denen des Laberius und einigen des Publilius absieht, beruhten wie die griechischen überwiegend auf Improvisation, die sich aber der gebundenen Sprache bediente. Die Aufführung dürfte etwa eine halbe bis eine Stunde beansprucht haben […]. Die Handlung war in Auftritte gegliedert, verlief nicht einheitlich, sondern bot unwahrscheinliche Verwicklungen und Überraschungen und endete oft abrupt. Ein fester Bestand an Motiven: nuptiae [Hochzeiten], adulteria [Ehebruch, Liebesaffäre, Untreue], stupra [Schande], naufragia [Schiffbruch], mortes [Todesfälle], fallaciae [Täuschungen], praestigiae [Gaukeleien] wurde stets variiert. Nicht selten wurden die genannten Sachverhalte nur parodisch vorgetäuscht. Auch Mythentravestie war üblich. Im Mimus treffen wir die verschiedensten Nuancen des Witzes, von den Albernheiten bis zu den unter dem Schein der Torheit vorgebrachten Feinheiten […]. Die Obszönität der Mimen war sprichwörtlich, wie es uns zumal aus der Polemik der christlichen Autoren deutlich wird. Das Mimenensemble bestand aus vier je auf ein Rollenfach festgelegten Darstellern, den actores primarum, secundarum, tertiarum, quartarum. Der erste und der dritte Schauspieler waren antagonistische Charakterdarsteller, dem zweiten und vierten Schauspieler fielen die lustigen Rollen des Stupidus und des Parasiten zu. Weitere Spieler konnten nach Bedarf […] hinzutreten. Das übliche Begleitinstrument war die Flöte. Es gab aus Sprechpartien und cantica gemischte, aber auch tänzerisch konzipierte Mimen. Zugunsten des Hauptdarstellers hatten die übrigen Spieler sich zurückzuhalten. Der Titel eines archimimus wurde vom Berufsverband verliehen, er konnte in einem Ensemble mehrfach vorkommen. Die lustigen Personen trugen den Schädel kahlrasiert.“ 55
Ab Ende des 3. Jahrhunderts v. Chr. wanderten griechische Mimen auch nach Rom ein als Solodarsteller und ganze Truppen. Hauptausgangspunkt dieser Bewegung war [<< 45] Alexandria. Die Zuwanderung hielt bis ins 6. nachchristliche Jahrhundert an. 56Parallel zum griechischen Mimus entwickelte sich der römische, dessen Blütezeit 46 v. Chr. sich in einer von Cicero festgestellten Veränderung in der Aufführungspraxis manifestierte: In diesem Jahr löste er die Atellane als Nachspiel der Tragödie ab. Dem improvisierten Ensemblemimus blieb die Publikumsgunst erhalten, und er erfuhr bis ins 6. Jahrhundert keine grundsätzlichen Veränderungen in der Darbietung. 57
1.3.2 Dorische Posse, Phlyakenposse
Als dem Theater der würdigen Rhapsoden geradezu entgegengesetzte Theaterform gelten kleine ausgelassene Dialogszenen, die in Griechenland zuerst auf der Peleponnes aufgeführt worden sein sollen. Die dorischen Possenreisser kostümierten sich wohl auch als dionysische Dämonen, als Silene und Satyrn. Gleichzeitig werden in Attika an den ländlichen Festen der kleinen Dionysien heitere Lieder im Chor gesungen. Die attischen Spottchöre nehmen von Anfang an die mannigfaltigsten Verkleidungen an. Die Kenntnis dieser Elemente macht sich die altattische Komödie zunutze, doch die Elemente gehen nicht in ihr auf, sie existieren neben ihr weiter. Die dorische Posse erreicht von Sparta aus Attika und Böotien, vor allem aber soll sie mit den dorischen Kolonisten nach Sizilien und Unteritalien gelangt sein. 58Für das 4. Jahrhundert v. Chr. ist dort die griechische Phlyakenposse durch zahlreiche Kratere gut dokumentiert. 59
Mehrere Formen komischen Theaters koexistieren und gehen ineinander über. [<< 46]
Mimus |
literarische Tradition |
Mimos |
dorische Posse(Peloponnes, 6. Jh. v. Chr.; korinthische Vasen) |
Alte KomödieAristophanes (um 445 – um 386 v. Chr.) |
um 400 v. Chr. auch als lit. GattungSophron aus Syrakus |
Phlyakenposse(gräzisiertes Unteritalien; Kratere) |
Neue KomödieMenander (um 342 – 292 v. Chr.) |
Rom |
seit 238 v. Chr. röm. Mimus-Aufführungen an den eigens geschaffenen „Ludi floralia“, seit 173 jährlich 28.4.–2.5. |
AtellaneStadt Atella bei Capua, ab 338 v. Chr. römischab ca. 100 v. Chr. auch eine lit. Variante: Lucius Pomponius aus Bologna; Novius |
Palliata(griech. Komödie, nach: pallium, Obergewand)Plautus (um 250 – 184 v. Chr.) Terenz (um 190 – 159 v. Chr.) |
Togata(röm. Komödie, nach: toga, offiz. Tracht)Titinius und Quinctius Atta †77 v. Chr.; 70 Titel bekannt; Begriff Togata später für jedes heitere oder ernste Stück mit römischem Stoff |
Palliata, Togata und Atellane lösen sich um 46 v. Chr. im Mimus auf |
Mimus |
Pantomimuszu Tanz und Gebärdenspiel singt ein Chor den Text |
Die griechische Phlyakenposse, dargeboten von Berufsschauspielern mit Maske, verspottete nicht nur den Mythos mit seinen Heroen und Göttergestalten, sondern auch die Tragödie, die ihre Stoffe dem Mythos entlehnte. Die ältere Forschung hat insbesondere an Merkmalen der Kleidung versucht, die unterschiedlichen Varianten des Mimus zu unterscheiden. Das Trikot der Phlyaken „zeigt außer dekorativen Querstreifen häufig Falten, Längsnähte und Randsäume. Sie tragen darüber oft ein eng anliegendes, wohl ledernes Wams, auf das Brustwarzen und Nabel gemalt sind. Darüber wird dann die Tracht des täglichen Lebens, Chiton, Exomis oder Mantel, angelegt, immer in zu kurzer Form, sodass der Phallos sichtbar bleibt.“ 60Die Phlyaken – wiederum ein Begriff für Spieler und Spiel – agierten auf dem Markt auf einer neutralen Podestbühne von etwa eineinhalb bis zwei Metern Höhe, dahinter ein Vorhang oder eine hölzerne Rückwand mit Tür und Fenster. [<< 47]
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