Im Rahmen der Umlandpolitik und der Kontrolle der näheren Marktzone, war die Durchsetzung des Marktbanns in der Regel zentral: Die meisten Städte forderten, dass in einer Entfernung von ein bis zwei deutschen Meilen (7,4 bis 14,7 km) keine anderen Märkte stattfinden dürfen. Besonders mächtige und erfolgreiche Städte wie Augsburg konnten eine Bannmeile ihres Marktzwangs von bis zu 10 Meilen (73,6 km) durchsetzen. Leipzig verlieh die Bannmeile entscheidende Konkurrenzvorteile gegenüber Nachbarstädten in der Region.
4.6 Das Verlagssystem: Arbeitsressourcen des Hinterlands mobilisieren
Das Hinterland bot aber nicht nur für die Versorgung der Städte essenzielle Ressourcen, sondern verfügte auch über Arbeitskräfte. Seit dem 13. Jahrhundert entfaltete sich ein ländliches Gewerbe, vor allem im Bereich der Textilproduktion, das aus der winterlichen Eigenproduktion der Bauern für den eigenen Bedarf erwachsen war. Das Spinnen von Garn, das Weben einfacher Tuche, zunächst für den Eigenbedarf, füllte in vielen bäuerlichen Haushalten den arbeitsarmen Winter. Aufgrund des demografischen Wachstums entstand noch vor der Pest vor allem in Realteilungsgebieten eine unterbäuerliche Schicht, die über zu wenig Land verfügte, um sich allein davon ernähren zu können. Andererseits erwiesen sich die zünftischen Produktionsbeschränkungen in der Stadt aus Sicht städtischer Tuchhändler als Hemmnisse weiteren Wachstums. In dieser Situation begannen städtische Kaufleute, meist „Verleger“ genannt, die ländlichen Arbeitskraftreserven für einfache Produktionsstufen (Spinnen, Weben) zu mobilisieren. Größere Verbreitung fand das „Verlagssystem“ seit dem 13. Jahrhundert nördlich des Bodensees in der Herstellung von Leinwand-Tuchen. Verleger aus Konstanz, Ravensburg, Memmingen usw. brachten Flachs, das Rohmaterial für Linnen, in die Häuser der Spinner und Weber und sammelten das gesponnene Garn bzw. die gewobenen Tuche dann nach einer Woche wieder ein, bezahlten die Arbeit im Stücklohn und brachten neues Rohmaterial für neue Aufträge. Häufig stellten die Verleger auch die Arbeitsmittel, insbesondere die Webstühle. Der Flachs wurde auf den dafür klimatisch geeigneten feuchten Böden des Allgäus angebaut, zugleich wurde auch [<<85] die im Allgäu mit ausgedehnter Viehwirtschaft produzierte Milch für die Bleichvorgänge verwendet. Es entstand also eine regionale integrierte Arbeitsteilung zwischen den Flachs und Milch produzierenden Anbauregionen im Allgäu, den demografisch überbesetzten Dörfern Oberschwabens, wo die Verarbeitung des Flaches stattfand und den städtischen Verlegern, die die Austauschprozesse ökonomisch koordinierten und lenkten. Die Endverarbeitungsstufen der Textilprodukte fanden in der Regel dann wieder in Städten wie Konstanz, Ravensburg oder Memmingen statt, wo die Tuche dann auch mit den städtischen Qualitätssiegeln versehen wurden.58
Das Verlagssystem etablierte sich im Spätmittelalter und der beginnenden frühen Neuzeit auch in anderen Gewerbezweigen. Die Kontrolle der Textilhandelsstädte über ihr jeweiliges verlagsindustrielles Hinterland war jedoch keineswegs dauerhaft gesichert; so gelang es beispielsweise unternehmerisch gesinnten Kaufleuten wie den Fuggern, qualifizierte ländliche Spinner und Weber aus dem Ulmer Hinterland wegzulocken und in eigenen Städten als Arbeitskräfte anzusiedeln.59 Generell fanden im Rahmen des Verlagssystems die Produktionsstufen bis zu halb fertigen Produkten auf dem Land statt, während sich die Endverarbeitung dann im Rahmen städtischen zunftgebundenen Handwerks vollzog. Dies geschah auch in der Holzverarbeitung, wo ländliche Schreiner Holzräder, Fassdauben oder Bettgestelle produzierten, die Endverarbeitung und das Beschlagen mit Eisenteilen dann aber in der Stadt ausgeführt wurde. Köln profilierte sich als Zentrum der Metallverarbeitung, wo die im Umland (u. a. Bergisches Land, Siegerland) produzierten halb fertigen Metallwaren in Köln dann poliert, geschliffen und vermarktet wurden.60 Dieses Verlagssystem, eine europaweite Erscheinung der stärker gewerblich konzentrierten Regionen, wurde von Wirtschaftshistorikern auch als „Protoindustrialisierung“ bezeichnet.61 Damit war nicht die Einführung arbeitssparender Maschinen gemeint, sondern vielmehr der sozialgeschichtliche Prozess einer Herauslösung der unterbäuerlichen Schichten aus den traditionellen Begrenzungen vormoderner Landwirtschaft. Zugleich entstand durch die ländliche gewerbliche Arbeit ein erheblicher Druck auf die zünftische Organisation von Gewerbe in den Städten.
Städte waren folglich in unterschiedlichem Maße abhängig von der Verfügbarkeit wichtiger Ressourcen. Essenzielle Ressourcen, wie zum Beispiel der Wald, liefen Gefahr, [<<86] aufgrund übermäßiger Beanspruchung zu stark ausgebeutet zu werden, was die Städte je nach ihrer politischen und verkehrswirtschaftlichen Lage zu unterschiedlichen Strategien zwang: Intensive machtpolitische Dominanz und erhaltungsorientierte Bewirtschaftung etwa im Fall Nürnberg ohne größeren schiffbaren Fluss, Nutzung weiter entfernter Waldbestände durch Flößerei und Triften in Städten mit besserem Zugang zu Wasserwegen. Nahrungsmittel wurden je nach Transportierbarkeit bzw. Verderblichkeit vorzugsweise aus dem näheren Umland bezogen, teilweise, wo hohe Bevölkerungskonzentrationen einerseits (Flandern), aber auch günstige Verkehrslage dies ermöglichten, auch aus weiter entfernten Regionen (Getreide Ostsee, Baltikum). Die Ressourcenbedürfnisse der Städte spielten auch eine wichtige Rolle in der Motivation für die Etablierung städtischer Territorien. Insgesamt können wir für das Spätmittelalter und die frühe Neuzeit eine – allerdings nicht durchgehend lineare –Tendenz zu weiträumigerer Versorgung und zur Entfaltung großräumiger Arbeitsteilung zwischen urbanisierten und gewerblich verdichteten Kernzonen Europas im Nordwesten und in Norditalien einerseits und deutlich dünner besiedelten peripheren Regionen im Osten und Südosten Europas (Viehzucht – große Viehtriebe) andererseits beobachten. [<<87]
1Franz Irsigler: Bündelung von Energie in der mittelalterlichen Stadt. Einige Modellannahmen, in: Saeculum 42 (1991), S. 308–318, hier 309.
2Vgl. etwa James A. Galloway/Derek Keene/Margaret Murphy: Fuelling the City: Production and Distribution of Firewood and Fuel in London’s Region, 1290–1400, in: Economic History Review, XLIX (1996), S. 447–472.
3Ernst Schubert: Der Wald. Wirtschaftliche Grundlage der spätmittelalterlichen Stadt, in: Bernd Herrmann (Hrsg.), Mensch und Umwelt im Mittelalter, Stuttgart 1986, S. 252–269.
4Karl Kroeschell: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1: Bis 1250, Köln/Weimar/Wien 2008, S. 330.
5Nils Freytag/Wolfgang Piereth: Städtische Holzversorgung im 18. und 19. Jahrhundert. Dimensionen und Perspektiven eines Forschungsfeldes, in: Dies./Wolfram Siemann (Hg.): Städtische Holzversorgung. Machtpolitik, Armenfürsorge und Umweltkonflikte in Bayern und Österreich (1750–1850), München 2002, S. 1.
6Vgl. John Perlin: History of Wood Energy, in: Encyclopedia of Energy, Vol. 6, 2004, S. 499–507, hier S. 499: “Wood was the primary fuel for the entire world from the discovery of fire to the age of fossil fuels.”
7Schubert, Wald, S. 257; vgl. auch Joachim Radkau: Holz. Wie ein Naturstoff Geschichte schreibt, München 2007, S. 21 f., 81–87. Ernst Schubert: Alltag im Mittelalter, Natürliches Lebensumfeld und menschliches Miteinander, 2. Aufl. Darmstadt 2012, bes. S. 36–64.
8Vgl. Schubert, Wald, S. 254–257.
9Vgl. Sönke Lorenz: Wald und Stadt im Mittelalter. Aspekte einer historischen Ökologie, in: Bernhard Kirchgässner/Joachim B. Schultis (Hrsg.):, Wald, Garten und Park. Vom Funktionswandel der Natur für die Stadt, Sigmaringen 1993, S. 25–34, hier S. 29. u. 33; Schubert, Alltag, S. 43–45: „Auf deutschem Boden wurde ein Gebiet von der Größe Englands dem Wald und der Wildnis abgerungen.“
Читать дальше