Die moderne Kommunikationswissenschaft in Deutschland, Österreich und der Schweiz geht im Wesentlichen auf zwei Stränge zurück: auf die zeitungs- bzw. publizistikwissenschaftliche Tradition des deutschen Sprachraumes sowie auf die (journalistik- und) kommunikationswissenschaftliche Tradition angloamerikanischer Herkunft .
• Die deutschsprachige Zeitungswissenschaft hatte ihrerseits nationalökonomisch-statistische und historische Wurzeln. Sie widmete sich – auch als Publizistikwissenschaft – bis in die 1960er-Jahre in hohem Maße der Journalismus- und Mediengeschichte sowie der Medienstatistik; und sie bediente sich dabei, neben der Statistik, primär geisteswissenschaftlich-hermeneutischer Methoden. Im Mittelpunkt standen Medien und publizistische Persönlichkeiten , ehe in Deutschland ab den 1950er-Jahren auch erste empirische Studien folgten (vgl. Kap. 2.9).
• Am Anfang der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Journalismus und Massenmedien in den USA stand eine praktizistische Journalistik, ehe sich die Disziplin – ab Mitte der 1920er-Jahre – mit Fragen der Medienwirkungen beschäftigte. Um diese zu ergründen, bedienten sich (damit befasste) Soziologen, Sozialpsychologen, Psychologen und Politikwissenschaftler bereits damals sozialwissenschaftlicher Forschungsmethoden. Im Mittelpunkt stand – und steht – die empirischanalytische Untersuchung von Kommunikations prozessen . Diese empirische Kommunikationsforschung, die im deutschen Sprachraum übrigens Vorläufer in den quantitativen Methoden der Staatswissenschaften (also der »Statistik«) hatte, begann ab Mitte der 1960er-Jahre in die deutsche Publizistikwissenschaft einzufließen und zunehmend um sich zu greifen. In diesem Zusammenhang ist von der »empirisch-sozialwissenschaftlichen Wende« (Löblich 2010a, 2010b) in der Publizistikwissenschaft die Rede, die mehrere Ursachen hat und Gegenstand der Ausführungen in Kap. 2.9ist.
Heute ist die Kommunikationswissenschaft ein Fach, das von der Mehrzahl seiner Fachvertreter im empirisch-sozialwissenschaftlichen Sinne verstanden und betrieben wird, ohne hermeneutisch-geisteswissenschaftliches Vorgehen gering zu schätzen oder gar auszugrenzen (vgl. Peiser et al. 2003). Auch ist ein unübersehbares Bemühen um Trans- und Interdisziplinarität zu erkennen. Aus gesellschaftswissenschaftlicher Sicht ist dieses Bemühen beinahe unumgänglich: Das Fach entlehnt ständig Fragestellungen und Kenntnisse aus anderen (Gesellschafts-)Wissenschaften, die sich ihrerseits der Kommunikationswissenschaft bedienen und deren Erkenntnisse für sich nutzbar machen. Zu erwähnen sind v. a. die Soziologie, die Psychologie, die Politikwissenschaft, die Pädagogik, die Werbe- und Wirtschaftswissenschaften, die Informatik sowie die Computerwissenschaft. In jüngerer Zeit gesellt sich eine fachliche Ausrichtung hinzu, die sich »Medienwissenschaft« nennt. Ihre Protagonisten kommen weitgehend aus der Sprach- und Literaturwissenschaft sowie aus der Germanistik und – teilweise zumindest – auch aus der Medienpädagogik; ihren Gegenstand findet sie v. a. in den formalen Angebotsweisen der Massenmedien (die für sie »Texte« sind), in deren kulturellen Leistungen sowie in der Ästhetik der Medien. Die rein historisch orientierte Kommunikationswissenschaft als pure Mediengeschichte rückt etwas in den Hintergrund, wiewohl diese fachliche Orientierung zweifellos ihre ganz großen Verdienste hat: Aus der historischen Genese lassen sich gegenwärtige kulturelle und soziale Phänomene, welcher Art auch immer, besser verstehen und erklären. Dies gilt in Deutschland, trotz – oder gerade wegen – der Zäsur durch den Zweiten Weltkrieg auch und v. a. für Erscheinungen der Massenkommunikation.
[17]1.1 Gegenstand des Faches
Kommunikation ist ein Phänomen, das alle Bereiche menschlicher Existenz tangiert und durchdringt. Die Kommunikationswissenschaft hat daher einen umfassenden Fachgegenstand, den sie mit anderen Wissenschaften teilt und der in seiner Komplexität und Gesamtheit wohl nie vollständig zu erfassen sein wird. Sie befasst sich – im weitesten Sinne – mit den im gesellschaftlichen Diskurs ausgetauschten Informationen , v. a. mit den über die klassischen Massenmedien und die Onlinemedien vermittelten Botschaften, ihren Entstehungs- und Verbreitungsbedingungen sowie Rezeptionsprozessen. Gegenstand des Faches ist insgesamt also das Phänomen der gesellschaftlichen Kommunikation. Dieses lässt sich allgemein gliedern in:
• interpersonale Kommunikation (Face-to-face-Kommunikation);
• technisch vermittelte (Tele-)Kommunikation (Telefon, Mobilfunk, SMS, MMS, Sprechfunk, Telex, Teletext, Telefax, Telefoto, Datenfernübertragung etc.);
• Massenkommunikation (Print, Radio, Fernsehen, Film/Kino, Unterhaltungselektronik einschließlich Nachrichtendienste und Nachrichtenwesen) sowie
• computervermittelte (On- und Offline-)Kommunikation in ihrer vielfältigen Erscheinung als Individual-, Gruppen- oder Massenkommunikation.
Der Lehr- und Forschungsschwerpunkt lag dabei für lange Zeit im weiten Feld dessen, was allgemein als Massenkommunikation bezeichnet wird. Er umfasste also die traditionellen Massenmedien Zeitung, Zeitschrift, Hörfunk und Fernsehen. In exorbitant zunehmendem Maße aber gilt die Aufmerksamkeit des Faches dem, was allgemein als Multimedia/computervermittelte Kommunikation bezeichnet wird – also infolge der Digitalisierung die Verschmelzung bzw. technische Konvergenz von Telekommunikation, Computer, Unterhaltungselektronik und Medienindustrie in Form der Onlinekommunikation, der interaktiven Medien (einschließlich der Offlinemedien wie CDROMs) sowie des digitalen Radios und Fernsehens.
Sowohl zwischenmenschliche, mehr aber noch medien- und computervermittelte Kommunikation sind in gesamtgesellschaftliche, soziopolitische Bezüge eingebunden. Daher gilt die Aufmerksamkeit der Kommunikationswissenschaft weniger den Manifestationen originärpublizistisch verbreiteter Kommunikation (wie öffentliche Reden), sondern v. a. der klassischen Massenkommunikation (Zeitung, Zeitschrift, Radio, Fernsehen) sowie der Onlinemedien in ihren vielfältig ausgeprägten Erscheinungsformen. Das Fach befasst sich u. a. mit:
• den rechtlichen und politischen Bedingungen, die den Ordnungsrahmen für Kommunikation, Massenkommunikation und computervermittelte bzw. Onlinekommunikation vorgeben;
• den ökonomischen Gesetzmäßigkeiten und wirtschaftlichen Zwängen, unter denen sich (Massen-)Kommunikation und Onlinekommunikation vollziehen;
• den unterschiedlichen Organisationsformen, Medienverfassungen und Strukturen, die im System Massenkommunikation und bei den Onlinemedien vorzufinden sind;
• den technisch bedingten Funktionsweisen und Eigengesetzlichkeiten der Massenmedien und Onlinemedien, die sowohl für die Gestaltung der über sie vermittelten Botschaften wie auch für Rezeption und Wirkung der vermittelten Kommunikate bzw. Inhalte von Bedeutung sind;
• den Medienschaffenden (Kommunikatoren, Journalisten, Programmgestaltern etc.), die die Inhalte und Programme der Massenmedien und Onlinemedien unter je unterschiedlichen Gegebenheiten und Bedingungen produzieren;
• den Bedingungen und Prozessen publizistischer Aussagenentstehung, die wesentlichen Einfluss auf jene Wirklichkeit haben, die wir Medienwirklichkeit nennen (und die mit der »realen Wirklichkeit« nicht einfach gleich gesetzt werden kann);
[18]• den Rezeptionsgewohnheiten und Nutzungsweisen der Medienkonsumenten, also mit dem Publikum der klassischen Massenmedien und der Onlinemedien und der Art und Weise, wie das Publikum Medienbotschaften auswählt, aufnimmt und nutzt;
• der Kommunikation in sozialen Netzwerken, in Blogs und Mikroblogs, in Nutzerkommentaren, Postings etc.;
• den individuellen Wirkungen und gesellschaftlichen Folgen, die von medien- bzw. computervermittelter Kommunikation ausgehen können;
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