Die Entscheidung für das Exemplarische ist notgedrungen subjektiv, aber nicht beliebig. Die Auswahl orientiert sich an der Frage, welchem Wandel die Idee der Bildsamkeit im Zeitraum von mehr als zwei Jahrhunderten unterlag und welche Wirkungen und Folgen sich hinsichtlich der erwähnten Fragestellungen ergaben. Die Verpflichtung zur informierenden Orientierung verlangt, dass der gesamte Zeitraum präsent ist – unter dem Gesichtspunkt der erkenntnisleitenden Fragestellung muss es jedoch zu Schwerpunktsetzungen kommen. So wird der Darstellung der Entwicklung des ersten Jahrhunderts (bis ca. 1860) relativ viel Raum gewährt, da in ihr die entscheidenden Grundlagen für die Entfaltung und Wirksamkeit des Bildungsbegriffs für Menschen mit Behinderung gelegt sind, während hingegen das Dritte Reich, das eher eine Pervertierung dieses Gedankens verkörpert, in der Logik dieser Einführung keine dominante Stellung erhält.
Periodisierung
Da diese Einführung in die Geschichte der Sonderpädagogik auch ein Verständnis für das historische Gewachsensein gegenwärtiger Phänomene anbahnen möchte, muss die Darstellung nach meinem Verständnis der zeitlichen Chronologie folgen, womit sich die Frage nach der Periodisierung geschichtlicher Abläufe stellt. Ein Blick in historische Standardwerke, wie etwa das „Handbuch der deutschen Geschichte“ von B. Gebhardt in vier Bänden (1954ff)oder aber die „Deutsche Gesellschaftsgeschichte“ von H.-U. Wehler, ebenfalls in vier Bänden (1989ff), zeigt keine Übereinstimmung in der Festlegung der Perioden, was schließlich auch für das „Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte“ in sechs Bänden von Berg und Mitautoren (1987ff)sowie die „Geschichte der Erziehung“ von H.-E. Tenorth (20084) zutrifft. Diese unterschiedliche Akzentuierung bei der Festlegung von Perioden offenbart nur einmal mehr, dass es die Geschichte nicht gibt, dass jede Darstellung historischer Phänomene durch Standortgebundenheit mitbestimmt wird.
Die sich anschließenden sieben Kapitel folgen der Entwicklung von den Anfängen gegen Ende des 18. Jahrhunderts bis zu einer Analyse gegenwärtiger Tendenzen wobei nicht nur die „Einheit“ der Pädagogik den Blick lenkt, sondern, in aller Begrenztheit, auch die Rückbindung an Politik- und Gesellschaftsgeschichte sowie das Interesse für Entwicklungen des Auslandes.
Quellenstudium
Eine Einführung in historisches Denken ist schließlich nicht möglich ohne die Begegnung mit dem Original, also der Quelle. Auch dies kann hier nur ansatzweise erfolgen, denn wir müssen auf einen umfänglichen Abdruck von Originaltexten sowie eine eingehende Erörterung von Quelleninterpretation und Quellenkritik verzichten. Aber die Verwendung von Auszügen ursprünglicher Texte soll die Erkenntnis vermitteln, dass die Darstellung vergangener Phänomene, und das sei hier wiederholt, immer bereits Interpretation ist, dass also der Unterschied von „Quelle“ und „Darstellung“, so Hans-Jürgen Pandel, auf einer „fundamentalen erkenntnistheoretischen Differenz“ beruht:
„Geschichte […] ist narratives Wissen, das sich jede Generation immer wieder neu erarbeiten muß, da die Gegenwart sich ständig verändert […] Jede Gegenwart läßt neue Fragen an die Vergangenheit entstehen. Insofern gibt es auch neue Antworten, und selbst die bekannten Quellen geben auf neue Fragen neue Antworten […] Im Gegensatz zu den Quellen ist historisches Wissen immer gegenwärtiges Wissen.“ (2003, 8f)
Dem Reiz, auch unveröffentlichte Quellen abzudrucken, konnte ich nicht widerstehen; im Interesse von leichterer Zugänglichkeit und Nachprüfbarkeit schien es mir allerdings geboten, den Schwerpunkt auf veröffentlichte Quellen zu legen.
Forschungs- desiderata
Mir ist sehr wohl bewusst, dass eine Geschichte der Sonderpädagogik ein kühnes Unternehmen ist, das viele Fallstricke bereithält, denn der Stand der historischen Forschung ist nicht so, dass man mit Gelassenheit auf breite gesicherte Erkenntnisse zurückgreifen könnte. Groß sind nach wie vor die Lücken des historischen Wissens, und vieles liegt eher schemenhaft an der Oberfläche, ohne gründlich erforscht zu sein. Mangel herrscht an regionalgeschichtlichen Studien sowie an Darstellungen, die sich auf bestimmte Zeitepochen konzentrieren, aber auch die Ansätze einer ideen-, institutions-, historisch-vergleichenden und alltagsgeschichtlichen Herangehensweise verlangen eine stärkere Beachtung in der sonderpädagogischen Historiografie. Die Not der Auswahl erfordert schließlich einen Mut zur Lücke, den jeder aufbringen muss, der das Wagnis einer Einführung auf sich nimmt. Der kluge und historisch bewanderte Leser wird vieles vermissen; diesem Mangel versuche ich durch ausführliche Literaturhinweise ein Stück weit zu begegnen.
Ein letzter Hinweis gilt der Terminologie. In der Regel benutze ich die historischen Begriffe, die uns heute häufig fremd und befremdlich erscheinen, aber als zeitgebunden, meist nicht wertende pejorative Termini zu verstehen sind. Heil-, Sonder-, Behinderten- und Rehabilitationspädagogik werden schließlich als synonyme Begriffe verwendet. Bei der Benutzung gegenwärtiger Begriffe habe ich mich auch von sprachästhetischen Überlegungen leiten lassen, so dass etwa der Terminus „Behinderung“ sowohl in adjektivischer als auch substantivischer Form Verwendung findet.
Geschichte ist immer auch Erzählung und lebt von der Erzählung, sie ist ohne Narration nicht vorstellbar. Ich möchte somit im Folgenden von der mehr als 250-jährigen Geschichte der pädagogischen Anstrengungen um Bildung und Erziehung behinderter und beeinträchtigter junger Menschen erzählen, von dem Entstehen einer Heil- und Sonderpädagogik, ihren Glanzlichtern und Triumphen, aber auch ihren Schatten und Niederlagen.
2 Pädagogik der Aufklärung: Das späte 18. Jahrhundert
„Menschlichkeit (Moral)
Menschlichkeit ist ein Gefühl des Wohlwollens für alle Menschen, das nur in einer großen und empfindsamen Seele aufflammt. Diese edle und erhabene Begeisterung kümmert sich um die Leiden der anderen und um das Bedürfnis, sie zu lindern; sie möchte die ganze Welt durcheilen, um die Sklaverei, den Aberglauben, das Laster und das Unglück abzuschaffen […] Es macht ihr Freude, die Wohltätigkeit auf alle Wesen auszudehnen, die die Natur neben uns gestellt hat. Ich habe diese Tugend […] zwar in vielen Köpfen bemerkt, aber nur in wenigen Herzen.“
( Diderot/d’Alembert 1765)
2.1 Die Idee der Bildsamkeit behinderter Menschen
Johann Amos Comenius
„Nicht nur die Kinder der Reichen und Vornehmen sollen zum Schulbesuch angehalten werden, sondern alle in gleicher Weise, Adlige und Nichtadlige, Reiche und Arme, Knaben und Mädchen aus allen Städten, Flecken, Dörfern und Gehöften […] Dem widerspricht nicht, daß manche Menschen von Natur aus träge und dumm erscheinen. Gerade das empfiehlt und fordert eine solche Wartung der Geister nur noch mehr. Denn je träger und schwächlicher einer von Natur aus ist, umso mehr bedarf er der Hilfe, um von seiner schwerfälligen Stumpfheit und Dummheit so weit wie möglich befreit zu werden. Und man findet keine so unglückliche Geistesanlage, daß sie durch Pflege nicht verbessert werden könnte […]“ ( Comenius 1985, 55f u. 194)
Aufklärung
Allen, die als Menschen geboren werden, also auch jene mit einer Behinderung, das Lebens- und Bildungsrecht zuzuerkennen, sie zu erziehen und zu unterrichten – dieses Ziel findet sich schon bei dem großen Pädagogen Comenius (1592–1670) im 17. Jahrhundert und hat seine Aktualität bis in die Gegenwart nicht eingebüßt. Es sollte seit Erscheinen der Amsterdamer Ausgabe der „Didacta Magna“ (1657) von Comenius allerdings noch mehr als ein Jahrhundert vergehen, bis im Zeitalter der europäischen Aufklärung einzelne Persönlichkeiten Überlegungen, Pläne und praktische Unterrichtsversuche für jene erdachten, entwarfen und umsetzten, die „anders“ waren und die als Blinde, Taubstumme und „Blödsinnige“, vornehmlich als Angehörige der unteren Stände, von Bildung und Erziehung ausgeschlossen waren.
Читать дальше