„In ihren Bereich gehören die Viersinnigen, die sittlich Verwahrlosten, die Blöd- und Schwachsinnigen, die Cretinen, die Stotterer, die körperlich gebrechlichen Kinder; Letztere, so weit dadurch die geistige Entwicklung gehemmt wird. Im weitesten Sinn wird alle Pädagogik zur Heilpädagogik, sobald es gilt, falsch ausgebildeten Willens- und Gemüthsrichtungen im Kinde entgegenzutreten.“ (Stötzner 1868, 2)
Die Geschichte der Heil- und Sonderpädagogik war bislang primär eine Geschichte der jeweiligen sonderpädagogischen Disziplinen und das von Svetluse Solarová 1983 herausgegebene Werk „Geschichte der Sonderpädagogik“ spiegelt genau dieses Vorgehen wider, indem es jeweils einzelne Abhandlungen zu den jeweiligen sonderpädagogischen Fachrichtungen aufweist.
Die von Andreas Möckel 1988vorgelegte und 2007 überarbeitete „Geschichte der Heilpädagogik“ repräsentiert die erste übergreifende Darstellung des Gegenstandes Heilpädagogik. Dabei ist von besonderer Bedeutung, dass Möckel die Geschichte der Heilpädagogik im Referenzsystem von Pädagogik schlechthin thematisiert, denn er postuliert, dass „die Ursprünge der Heilpädagogik [uns] pädagogische Ursprünge [sind]“ (Möckel 2007, 23f). Indem Möckel allerdings seinen Blick auf das Scheitern in der Erziehung richtet, Versagen als zentrale Fragestellung wählt, ferner sein Augenmerk vor allem auf die Entstehung und Entwicklung „der ersten, bahnbrechenden Institutionen“ (Möckel 2007, 26) für Schüler mit Behinderung lenkt und schließlich Heilpädagogik eher als Gegenentwurf (so gegen Rousseau), nicht jedoch als komplementäres oder gar einheitsstiftendes Element der Allgemeinen Pädagogik ansieht, verharrt er letztlich, so scheint uns, notwendigerweise in einem eingeschränkten behindertenpädagogischen Referenzsystem.
Universalität von Bildung
Unser Blick auf die Geschichte der Sonderpädagogik möchte einen anderen Weg einschlagen, indem er die Blickrichtung wechselt. Ausgangspunkt unserer Darstellung soll nicht das bereits als Ergebnis historischer Prozesse generierte Besondere der Pädagogik sein, sondern das Allgemeine, der Universalitätsanspruch auf Bildung für alle.
Ambivalenzen moderner Pädagogik
Die Pädagogik der Moderne (vgl. Herrmann 2005; Tenorth 2006a) ist gekennzeichnet durch Ambivalenzen und Widersprüche, die sich am zentralen Begriff der Bildsamkeit aufzeigen lassen. Bildsamkeit als der zentrale Begriff der Pädagogik „zur Bezeichnung der Erziehbarkeit und Selbstbestimmungsfähigkeit des Menschen“ ( Benner/Brüggen 2004, 174) schließt als Idee und aus anthropologischer Sicht alle Personen ein, also auch Menschen mit einer Behinderung, sie gilt demnach universell. In ihrer praktischen Wirksamkeit – und darin liegt zugleich ihr paradoxaler Charakter – führt diese Idee der Bildsamkeit zu Besonderheiten, zur Partikularität, sei es durch spezifische Methoden, besondere Bildungsorganisationen oder aber eigene Professionsgruppen.
„In der subtilen Identifikation von Problemen wird die Partikularisierung verschärft und die Differenz und Separierung der Klientel erzeugt, die der an Gleichheit von Bildung und Bildsamkeit orientierte Diskurs an sich verbietet.“ (Tenorth 2006a, 498)
In ähnlicher Weise, unter Rekurs auf Störungen der Bildsamkeit, schrieb U. Bleidick 1978:
„Die Idee der Allgemeinen Pädagogik stammt von Herbart. Er hat ihr im Grundbegriff der Bildsamkeit des Zöglings […] das begriffliche Fundament gewiesen. Wenn nun Pädagogik über diese allgemeinen Aussagen hinausgeht, nach den einzelnen speziellen Inhalten der Bildung in den sprachlichen, religiösen, technischen Disziplinen, nach ihren institutionellen Formen in Familie, Schule, Kirche und Staat, nach Erziehungsformen, Bedingungen der Bildsamkeit usw. fragt, fächert sie sich in eine differenzielle Pädagogik besonderer Bereiche auf.“ (Bleidick 1978, 52f) Bildsamkeit von Menschen mit Behinderung
Bildsamkeit von Menschen mit Behinderung
Dieses Phänomen der Ambivalenz und Widersprüchlichkeit ist – und das sei hier besonders betont – konstitutiv für den Charakter der Pädagogik seit ihrem Entstehen als Disziplin im 18. Jahrhundert. Die vorliegende Einführung in das pädagogische Spezialgebiet Sonderpädagogik unternimmt demzufolge den Versuch, die Idee der Bildsamkeit im Hinblick auf den Personenkreis behinderter Kinder und Jugendlicher unter dem Aspekt der Gleichzeitigkeit von Universalität und Partikularität zu untersuchen. Dabei ist das Ziel, sowohl die Idee selbst in ihrer Variabilität als auch die Referenzräume von Methoden, Institutionen und Profession zu analysieren.
historische Grundfragen
Es sind die in Tabelle 1.1aufgeführten Grundfragen, die wie ein roter Faden die einzelnen Kapitel durchlaufen, aber in jeweils unterschiedlicher Akzentuierung zum Tragen kommen werden. Ich wähle also als Ausgangspunkt meiner Darstellung nicht die besonderen Problemlagen oder Institutionen, sondern orientiere mich in der historischen Frage nach einer Pädagogik behinderter Kinder und Jugendlicher an der für jede Pädagogik zentralen Kategorie der Bildsamkeit. Damit erteile ich allen Versuchen eine Absage, Fragestellungen und Antworten einer Geschichte der Heil- bzw. Sonderpädagogik ermitteln zu wollen, die nur für die Heil- bzw. Sonderpädagogik gelten.
Tab 1.1: Historische Grundfragen
− Warum werden behinderte Kinder und Jugendliche gebildet und erzogen? |
Die Frage nach den Ideen. |
− Wer ist gemeint? |
Die Frage nach dem Personenkreis. |
− Wie sollen Bildung und Erziehung geschehen? |
Die Frage nach den Methoden. |
− Wo soll es geschehen? |
Die Frage nach den Institutionen. |
− Wer soll das leisten? |
Die Frage nach der Profession. |
− Wie artikulieren sich die Subjekte? |
Die Frage nach der Selbstvertretung behinderter Menschen. |
Differenz und Differenzierung
Ungeachtet des verbindlichen, universalen, gemeinsamen Bezugspunktes von Bildsamkeit geht es in der Sonderpädagogik mit Blick auf Partikularität allerdings sehr wohl um Differenz und Differenzierungsprozesse. Die bereits bei Arno Fuchs 1928anzutreffende Unterscheidung in ältere und jüngere Sonderschulen, die sich bei Andreas Möckel in seiner Geschichte der Heilpädagogik (1988; 2007) wiederfindet, ist ein bedeutsamer Hinweis auf das Phänomen der Differenzierung bzw. Ausdifferenzierung, das auch von U. Hofer als zentral herausgestellt wurde. Sie schreibt: „Die historische Konsolidierung des Fachgebiets Sonderpädagogik zeigt sich als Akt zunehmender Ausdifferenzierung und Spezialisierung der Bemühungen um menschliche Bildbarkeit“ (Hofer 2004, 887). Dabei wird das Phänomen der Differenzierung nicht nur auf die Institutionen bezogen, sondern auch untersucht im Hinblick auf Methode, Anthropologie, Klassifikation, Bildungsziele und Normen.
Der Fokus auf die Differenz offenbart erneut das ambivalente Spannungsverhältnis zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen in der Pädagogik. Die in der Disziplin der modernen Pädagogik selbst zu verortenden Tendenzen von Universalität und Partikularität, von Inklusion und Exklusion, von Gleichheit und Differenz haben in verschiedenen Epochen zu unterschiedlichen Resultaten geführt; ihre exemplarische Darstellung soll uns im Folgenden beschäftigen, eingedenk der Erkenntnis von Kontingenz, nämlich, „es hätte auch anders kommen können“ (Bleidick 2001, 11).
Bedeutsamkeit für Gegenwart
Gemäß dem geschilderten Verständnis von Geschichte kann die vorliegende Einführung in die Geschichte der Sonderpädagogik nicht den Versuch unternehmen, ein möglichst vollständiges Bild einer mehr als 250-jährigen Entwicklung nachzeichnen zu wollen. Das Ziel ist ein sehr viel bescheideneres, nämlich anhand spezifischer Fragestellungen und in exemplarischer Weise unter dem Aspekt der Bedeutsamkeit für die Gegenwart die Historie im Hinblick auf Bildung und Erziehung behinderter Kinder und Jugendlicher zu befragen.
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