Dieser neue Zugang wird in der Definition einer psychischen Störung im DSM-5 deutlich: „Eine psychische Störung ist definiert als Syndrom, welches durch klinisch signifikante Störungen in den Kognitionen, in der Emotionsregulation und im Verhalten einer Person charakterisiert ist.“ Und weiter: „Diese Störungen sind Ausdruck von dysfunktionalen psychologischen, biologischen oder entwicklungsbezogenen Prozessen, die psychischen und seelischen Funktionen zugrunde liegen.“ Schließlich wird auch das subjektive Leiden und die subjektive Einschränkung besonders betont: „Psychische Störungen sind typischerweise verbunden mit bedeutsamen Leiden oder Behinderung hinsichtlich sozialer oder berufs-/ausbildungsbezogener und anderer wichtiger Aktivitäten“ (APA, 2013).
Die wohl größte Veränderung im DSM-5 ist der Verzicht auf das multiaxiale Klassifikationssystem. Die Achsen I–III wurden in ein monoaxiales System integriert. Dies bedeutet, dass die psychischen Störungen sowie die Entwicklungs- und Persönlichkeitsstörungen gemeinsam in der Sektion II aufgelistet werden. Diese Sektion, in der die diagnostischen Kriterien und Codes aufgelistet werden, umfasst 22 Kapitel, darunter das Schizophrene Spektrum und andere psychotische Störungen, Bipolare Störungen, Depression, Angststörungen, Zwangsstörungen, Traumabezogene und Stressbezogene Störungen, Dissoziative Störungen, Somatische Symptome und dazugehörige Störungen, Essstörungen usw. Weiters wurde die Kategorie „Nicht Näher Bezeichnete Störungen“ aus DSM-IV durch Unspezifizierte Störungen und Andere Spezifizierte Störungen ersetzt. Damit sollte die Spezifität von Diagnosen erhöht und die Angabe von Gründen ermöglicht werden. In der Diagnosestellung werden im DSM-5 für einige Störungen auch Zusatzkodierungen für den Schweregrad und assoziierte Beschwerden ermöglicht.
Anstelle der Achse IV wurde die Z-Codierung der ICD-10 einbezogen. Zur Erhebung psychosozialer und umgebungsbedingter Probleme sowie des globalen Funktionsniveaus wurde die GAF-Scale durch den World Health Organization Disability Assessment Schedule (WHO-DAS) ersetzt. Er ermöglicht eine Einschätzung der Anpassung vs. Beeinträchtigung in folgenden Bereichen: soziale Beziehungen (Familie, Freunde/Freundinnen), Bewältigung sozialer Situationen, schulische/berufliche Anpassung, Interessen und Freizeitaktivitäten. Die Skalierung erfolgt von 0 (hervorragende Anpassung auf allen Gebieten) bis zu 8 (braucht ständige Betreuung). Die beschriebenen V-Codes des DSM-IV wurden beibe - halten.
Bemerkenswert ist, dass die Perspektive der Entwicklung über die Lebensspanne, aber auch kulturelle Aspekte und Genderunterschiede im DSM-5 besondere Aufmerksamkeit erfahren sollen und Merkmale wie Alter, Geschlecht und Kultur bei der Diagnosestellung berücksichtigt werden.
1.3 Gefahren der Klassifikation
Ein Prinzip der psychiatrischen Klassifikation lautet, dass es nicht darum geht, PatientInnen zu diagnostizieren, sondern psychische Störungen. Aus diesem Grund sollten auch im Sprachgebrauch Ausdrücke vermieden werden, die auf eine Identifizierung der Menschen mit den psychischen Störungen, unter denen sie leiden, hinauslaufen, z. B. die Bezeichnung eines Schizophrenen oder eines geistig Behinderten als solchen. Stattdessen ist zu empfehlen, von Menschen mit einer geistigen Behinderung zu sprechen. Aber damit allein ist es sicher nicht getan. Die Klinische Psychologie muss sich auch mit möglichen Gefahren, die von einer im Medizinsystem verankerten Klassifikation psychischer Störungen ausgehen können, auseinandersetzen.
Die Gefährdung des Patienten/der Patientin, die mit der Verwendung eines psychiatrischen Klassifikationssystems verbunden sein kann, wurde v. a. von SoziologInnen hervorgehoben. VertreterInnen des symbolischen Interaktionismus (z. B. Scheff, 1973) haben darauf hingewiesen, dass die psychiatrische Diagnose den PatientInnen in der gesellschaftlichen Realität eine neue Identitätzuweist, ein Prozess, der als „Etikettierung“bezeichnet wird. Dieser Vorgang entspricht einem bestimmten gesellschaftlichen Mechanismus, der mit einer Ausgrenzung von auffälligem und abweichendem Verhalten verbunden ist und der die Gefahr mit sich bringt, dass das abweichende Verhalten verstärkt und damit eine abweichende Identität – die Identität als AußenseiterIn – begründet wird. In der Folge wurde darauf hingewiesen, dass die Etikettierung als AußenseiterIn vielfach mit einer formellen Abwertung des sozialen Status einhergeht. Folgende Phänomene sind damit gemeint:
– Mit bestimmten Etikettierungen sind negative Assoziationenverbunden.
– Personen, die mit einem Etikett (einer psychiatrischen Diagnose) bezeichnet werden, werden in einem ungünstigeren Lichtgesehen.
– Sie werden in einer weniger positiven und angemessenen Weisebehandelt.
– Das Verhalten der anderen Menschen hat negative Auswirkungen auf das Bemühen um Anpassungund Zurechtkommen der etikettierten Person.
Die Hypothese, dass die Etikettierung zu negativen Folgen für die Betroffenen führen kann, ist intuitiv nachvollziehbar. Trotzdem muss festgehalten werden, dass die Auswirkungen der Etikettierung von jenen des abweichenden Verhaltens in den meisten Fällen schwer trennbar sind. Im Allgemeinen wird die Information über das Verhalten einer Person ungleich stärker gewichtet als die Information, die aus einer Etikettierung abgeleitet werden kann.
Zwei andere Momente sind gleichfalls zu berücksichtigen:
1. Die Etikettierung eines Menschen als krank löst auch die Tendenz aus, diesem Menschen zu helfen, und sie hat für den Betreffenden auch eine entlastende Funktion.
2. Nach der Etikettierungstheorie ist die Zuschreibung einer abweichenden Identität eine so bedeutungsvolle Tatsache, dass dadurch andere Dinge in den Hintergrund treten: Sonstige Statusdefinitionen werden dadurch überschrieben.Es ist jedoch die Frage, wie generell dies gilt bzw. inwieweit dies nicht eine Funktion der sozialen Distanz darstellt und ob bei geringerer Distanz bzw. beim Wegfall anderer Mechanismen, welche die soziale Distanz aufrechterhalten (z. B. Institutionalisierung), eine Etikettierung tatsächlich so starke Auswirkungen zeigt.
Es erscheint notwendig, die möglichen negativen Folgen für die PatientInnen, die sich aus der psychiatrischen bzw. klinisch-psychologischen Diagnosenstellung ergeben, im Detail zu untersuchen. Bei einer solchen Analyse ist insbesondere darauf zu achten, inwieweit verbreitete Vorurteile, die auf einer Fehlinformation beruhen, eine Rolle spielenund wie diesen Vorurteilen begegnet werden kann. Weiters ist zu klären, ob negative Folgen an bestimmte rechtlich sanktionierte Vorgänge, etwa die zwangsweise Aufnahme in eine psychiatrische Behandlungseinrichtung, geknüpft sind. Auch ist darauf zu achten, wem Informationen über die Diagnose zugänglich gemacht werden und in welcher Form dies geschieht.
Zusammenfassung
Eine Klassifikation erlaubt eine systematische Sammlung von Erfahrungen über die Genese und den Verlauf von Störungen, über Einflussfaktoren auf den Verlauf sowie über den Erfolg von therapeutischen Interventionen bei bestimmten Störungen. Eine reliable Klassifikation bietet eine Reihe an Vorteilen für die wissenschaftliche Kommunikation, aber auch für Zuweisungsentscheidungen und die spezifische Indikationsstellung für Therapien. Zudem kann damit auch die Planung der psychosozialen Versorgung verbessert werden.
Die Anforderungen an ein Klassifikationssystem sind eine möglichst große Reliabilität, ein großer Deckungsumfang sowie eine hohe deskriptive und prädiktive Validität. Um dies zu erreichen, wurden genaue, operationalisierte Kriterien formuliert, die eine einheitliche Diagnose erlauben sollten.
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