1.2.4Soziale Kognitionen
Eine weitere einflussreiche Perspektive im Kontext der Gruppenforschung, insbesondere der Erforschung von Intergruppenprozessen, ist die soziale Kognitionsforschung. Generalthema der sozialen Kognitionsforschung ist die Frage, wie Menschen Informationen über andere Menschen und Gruppen verarbeiten, wie diese Informationen mental organisiert, gespeichert und abgerufen werden und wie sich diese Verarbeitungsprozesse auf die subjektive Wahrnehmung und Interpretation der sozialen Realität auswirken (Bless et al. 2004; Fiske/Taylor 1991).
Die soziale Kognitionsforschung stellt kein einheitliches theoretisches Rahmenwerk für die Analyse von Gruppenprozessen dar; vielmehr basieren die unter dieser Forschungsperspektive entwickelten Erklärungsansätze und Modelle auf einer Reihe von gemeinsamen Prämissen. Eine dieser Prämissen ist, dass sich Informationsverarbeitungsprozesse dahingehend unterscheiden lassen, inwieweit sie automatisch oder kontrolliert verlaufen. Automatische Prozesse sind u. a. dadurch gekennzeichnet, dass sie wenig kognitive Ressourcen verbrauchen, nicht kontrolliert werden müssen (oder kontrolliert werden können) und unterhalb der Bewusstseinsschwelle ablaufen (z. B. Bargh 1999). Kontrollierte Prozesse benötigen demgegenüber erhebliche kognitive Ressourcen, sie erfordern aktive Regulation, die von einer Person (zumindest teilweise) bewusst gesteuert werden kann. Das Kontinuum-Modell von Susan Fiske und Steven Neuberg (z. B. Fiske/Neuberg 1990) – eines der einflussreichsten Modelle zur Frage, wie sich Menschen Eindrücke von anderen Menschen bilden – geht beispielsweise davon aus, dass die Eindrucksbildung stets mit einer automatischen Kategorisierung der fremden Person beginnt, die auf der Grundlage leicht beobachtbarer Merkmale erfolgt (z. B. der Hautfarbe, dem Geschlecht oder dem Alter). Die Zielperson wird also zunächst – ohne dass der Wahrnehmende dies beabsichtigt – im Sinne ihrer Kategorienzugehörigkeit und der damit assoziierten stereotypischen Eigenschaften wahrgenommen (z. B. als Schwarzer). Nur wenn die Motivation zu einer kontrollierten Form der Informationsverarbeitung vorhanden ist, wird die kategorien- oder stereotypenbasierte Informationsverarbeitung zugunsten einer eigenschaftsbasierten Informationsverarbeitung aufgegeben, bei der die wahrnehmende Person Schritt für Schritt die individuellen Eigenschaften und Merkmale der Zielperson bei der Eindrucksbildung berücksichtigt (z. B. Colin, ein 25-jähriger dunkelhäutiger Psychologiestudent, der gern über politische Themen diskutiert und gut Fußball spielt).
Die Unterscheidung zwischen automatischer und kontrollierter Informationsverarbeitung bei der Eindrucksbildung wird auch von der sozial-neurowissenschaftlichen Forschung unterstützt. Studien zeigen, dass bei einer subliminalen Darbietung von Bildern von (ethnischen) Fremdgruppenmitgliedern eine stärkere Aktivierung der Amygdala (einer mit Emotionen assoziierten Hirnregion) erfolgt als bei Bildern von Eigengruppenmitgliedern. Bei längerem (bewusstem) Betrachten von Fremdgruppenbildern scheinen hingegen Regionen, die für die Regulierung und Kontrolle von Reaktionen zuständig sind, vermehrt aktiviert zu sein (für einen Überblick: Ito/Bartholow 2009).
Die soziale Kognitionsforschung hat zahlreiche Modelle und empirische Befunde hervorgebracht, die für die Erklärung von Verhalten innerhalb und zwischen Gruppen von grundlegender Bedeutung sind (➔ z. B. in Kapitel 3: Verarbeitung von Minoritäts- oder Majoritätsargumenten; in Kapitel 4: reflexive Reaktionen auf Stigmata).
1.3Gruppensozialisation
Wie „funktionieren“ Gruppen? Welche Phasen der Gruppensozialisation lassen sich unterscheiden?
1.3.1Normen und Rollen
Das individuelle Verhalten der Gruppenmitglieder wird durch soziale Normen koordiniert. Soziale Normen sind von den Gruppenmitgliedern konsensual geteilte Erwartungen; sie beziehen sich darauf, wie man sich als Gruppenmitglied in bestimmten sozialen Situationen verhalten sollte (und wie nicht). Das Befolgen dieser Erwartungen wird in vorhersehbarer Weise positiv, die Abweichung negativ sozial sanktioniert. Normen sind sozial (gesellschaftlich oder kulturell) bedingt und variieren daher zwischen Gruppen (Gesellschaften oder Kulturen). Soziale Normen können sich sowohl auf das Verhalten der Mitglieder innerhalb der Gruppe beziehen als auch darauf, wie sich Mitglieder der jeweiligen Gruppe gegenüber Mitgliedern anderer Gruppen verhalten sollen. Soziale Normen dienen u. a. den folgenden Funktionen (Cartwright/Zander 1968):
Gruppenlokomotion: Normen gewährleisten die Übereinstimmung der Gruppenmitglieder im Hinblick auf die Gruppenziele und die Zielerreichung.
Aufrechterhaltung der Gruppe: Normen führen zu einer Stabilisierung von Verhaltenserwartungen – eine wichtige Voraussetzung für befriedigende Interaktionen zwischen Gruppenmitgliedern.
Interpretation der sozialen Wirklichkeit: Normen kreieren und erhalten einen gemeinschaftlich geteilten Bezugs- und Interpretationsrahmen für die Bewertung von Ereignissen und Verhaltensweisen.
Definition der Beziehungen zur sozialen Umwelt: Normen dienen der Gruppe dazu, sich von anderen Gruppen abzugrenzen oder zu unterscheiden. Sie definieren die „Identität“ der Gruppe.
Bei der Untersuchung des Einflusses von Normen auf individuelles Verhalten hat es sich als sinnvoll erwiesen, zwischen zwei Typen von Normen zu unterscheiden: „injunktive Normen“ und „deskriptive Normen“. Der Begriff „injunktive Norm“ bezieht sich auf die Wahrnehmung, welches Verhalten von anderen gebilligt wird und welches nicht („Man soll seinen Abfall nicht einfach herumliegen lassen.“). Normen dieses Typs motivieren Verhalten durch die Antizipation von Belohnungen (oder Bestrafungen) für normatives (oder nicht normatives) Verhalten.
Der Begriff „deskriptive Norm“ bezieht sich auf die Wahrnehmung der Gruppenmitglieder, wie sich die meisten für gewöhnlich in einer Situation verhalten („Im Kino lassen die meisten ihren Abfall liegen.“). Normen dieses Typs motivieren Verhalten dadurch, dass sie darüber informieren, was offenbar angemessen oder sinnvoll ist („Wenn alle es tun, wird es seine Richtigkeit haben.“). Je nach sozialer Situation können diese Normen gegensätzliche Verhaltensweisen stimulieren (Kallgren et al. 2000). An welcher Norm (injunktiv vs. deskriptiv) sich Menschen in einer konkreten sozialen Situation orientieren, hängt von der situativen Salienz der Norm ab. Die Forschung zeigt, dass sich Menschen über den Einfluss von Normen auf ihr eigenes Verhalten nur selten bewusst sind.
Während soziale Normen definieren, wie sich Gruppenmitglieder im Allgemeinen zu verhalten haben, definieren soziale Rollen, wie Menschen sich verhalten sollen, die eine bestimmte Position innerhalb einer Gruppe (oder im weiteren Sinne einer Gesellschaft) innehaben (z. B. Berufsrollen, Geschlechtsrollen, familiäre Rollen). Ebenso wie Gruppennormen erleichtern soziale Rollen das koordinierte Handeln innerhalb von Gruppen, da sie Handlungsroutinen und Skripte für soziale Interaktionen bereitstellen und soziale Interaktionen durch Standardisierung vorhersehbar machen.
1.3.2Phasen der Gruppensozialisation
Moreland und Levine (1982) haben ein Modell vorgestellt, das den Gruppensozialisationsprozess beschreibt und erklärt. Es wird angenommen, dass sich die Beziehung zwischen Individuum und Gruppe über die Zeit hinweg systematisch verändert und dass sowohl Individuum als auch Gruppe als Agenten zu dieser Veränderung beitragen. Das Modell ist für die Analyse von Prozessen innerhalb von Gruppen konzipiert worden, die über einen längeren Zeitraum hinweg bestehen, deren Mitglieder wechselseitig voneinander abhängig sind und direkt miteinander interagieren (z. B. Arbeits- oder Projektgruppen innerhalb von Organisationen oder Sportmannschaften). In dem Modell werden fünf Phasen der Gruppenmitgliedschaft unterschieden:
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