Das Buch führt in beide traditionelle Schwerpunktbereiche der Gruppenforschung ein. Die ersten drei Kapitel widmen sich daher den intragruppalen Prozessen (d. h. dem Erleben und Verhalten innerhalb von Gruppen). Die darauffolgenden Kapitel widmen sich intergruppalen Prozessen (dem Erleben und Verhalten von Menschen im Kontakt mit Menschen anderer Gruppen).
Unser Dank gilt den wissenschaftlichen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen des Lehrstuhls Sozialpsychologie sowie zahlreichen Studierenden der FernUniversität in Hagen für ihre hilfreichen Hinweise und Rückmeldungen zu ersten Entwürfen unseres Manuskriptes. Für die Betreuung bei der Manuskriptgestaltung möchten wir uns bei der Lektorin Ulrike Landersdorfer herzlich bedanken.
In der zweiten Auflage haben wir aktuelle weitere Forschung eingearbeitet. Zudem haben wir das Spektrum um die Themen Radikalisierung, Diversität und Xenophilie erweitert.
Hagen, November 2019 |
Stefan Stürmer, Birte Siem |
1Einführung in die Gruppenpsychologie
Menschen aller bekannten Populationen leben in Gruppen; die Fähigkeit, Gruppen zu bilden ist eine Universalie der Spezies Mensch. Im Vergleich zu den meisten anderen sozialen Lebewesen ist das Gruppenverhalten des Menschen ausgesprochen vielfältig und differenziert. Menschen können zu vielen unterschiedlichen Gruppen gehören, in diesen Gruppen unterschiedliche Rollen und Positionen einnehmen, ihre Gruppenzugehörigkeiten wechseln und eine Vielzahl unterschiedlicher Gruppenziele verfolgen. Im Folgenden werden wir zunächst einige grundlegende Begriffe der sozialpsychologischen Forschung zu Gruppenprozessen und Intergruppenverhalten erläutern.
1.1Begriffsbestimmung
Der Gruppenbegriff wird in der Sozialpsychologie je nach Forschungstradition unterschiedlich definiert. Die meisten Sozialpsychologinnen und -psychologen stimmen aber darin überein, dass es für das psychologische Verständnis von Gruppenprozessen entscheidend ist, inwieweit sich Personen selbst als Gruppe definieren. Sie gehen daher von einem Gruppenbegriff aus, der die subjektive Sicht der Gruppenmitglieder, Teil einer Gruppe zu sein, zum zentralen Definitionskriterium erhebt (Tajfel/Turner 1986).
Soziale Gruppe: Eine Menge von Individuen, die sich selbst als Mitglieder derselben sozialen Kategorie wahrnehmen und ein gewisses Maß an emotionaler Bindung bezüglich dieser gemeinsamen Selbstdefinition teilen. Die Gruppe, zu der ein Individuum sich zugehörig fühlt, wird als „Eigengruppe“ bezeichnet, eine im sozialen Kontext relevante Vergleichsgruppe als „Fremdgruppe“.
Der sozialpsychologische Gruppenbegriff lässt sich sowohl auf Kleingruppen anwenden, in denen die Möglichkeit direkter („Face-to-Face-“)Interaktionen zwischen allen Gruppenmitgliedern besteht (Arbeitsgruppen, Teams etc.), als auch auf soziale Kategorien, bei denen diese Möglichkeit nicht besteht (Männer, Psychologen, Deutsche etc.). In der Sozialpsychologie werden die Begriffe „soziale Kategorie“ und „Gruppe“ daher typischerweise synonym verwendet.
Der Begriff „Entitativität“ bezieht sich darauf, inwieweit eine Ansammlung von Personen vom sozialen Beobachter als kohärente soziale Einheit wahrgenommen wird (bzw. seinem „prototypischen“ Bild einer Gruppe entspricht). Im Allgemeinen werden Gruppen, bei denen ein hohes Maß an Interaktionen zwischen Gruppenmitgliedern besteht, als besonders entitativ angesehen – z. B. Familien oder Teams (Lickel et al. 2000).
Der Begriff „Gruppenkohäsion“ bezieht sich auf den inneren Zusammenhalt einer Gruppe (das „Wir-Gefühl“), der u. a. durch die Intensität und emotionale Qualität der Beziehungen der Gruppenmitglieder zueinander zum Ausdruck kommt. Gruppenkohäsion ist eine variable Eigenschaft einer Gruppe: Sie kann zwischen Gruppen, zwischen unterschiedlichen sozialen Kontexten und über die Zeit hinweg variieren.
Der Begriff der „sozialen (oder auch kollektiven) Identifikation“ bezieht sich wiederum auf die psychologische Beziehung zwischen einem einzelnen Gruppenmitglied und der Gruppe. Soziale Identifikation wird als ein Konstrukt aufgefasst, das aus mehreren Komponenten besteht (Leach et al. 2008). Auf abstraktem Niveau reflektieren diese Komponenten:
welchen Stellenwert die Gruppenmitgliedschaft für die Selbstdefinition einer Person hat und
wie viel eine Person emotional in ihre Gruppenmitgliedschaft investiert.
Aufgrund unterschiedlicher individueller Erfahrungen können sich einzelne Gruppenmitglieder unterschiedlich stark mit ihrer Gruppe identifizieren; die Stärke dieser Identifikation kann außerdem mit dem sozialen Kontext variieren. Ein wichtiger Einflussfaktor auf die psychologische Beziehung zwischen Individuum und Gruppe ist, ob die Gruppenzugehörigkeit selbst gewählt worden ist (z. B. die Mitgliedschaft in einer Freizeitsportgruppe oder einer politischen Partei) oder ob sie durch soziale Strukturen oder die Behandlungen anderer Personen vorgegeben ist (z. B. die Zugehörigkeit zu einer sozialen Kategorie basierend auf dem Geschlecht, der Ethnie oder der sexuellen Orientierung).
Für das Erleben der Gruppenzugehörigkeit ist ferner relevant, ob es sich bei der Gruppe um eine soziale „Minoritätsgruppe“ oder um eine „Majoritätsgruppe“ handelt. Minoritäten haben (mit Ausnahmen von Eliten) typischerweise einen niedrigeren sozialen Status innerhalb der Gesellschaft als Majoritäten und verfügen nicht selten über eingeschränkte gesellschaftliche Rechte oder Ressourcen. Forschungsergebnisse zeigen, dass Minoritätsangehörigen im Vergleich zu Majoritätsangehörigen ihre Gruppenzugehörigkeit in sozialen Situationen häufiger präsent ist, wobei sie gleichzeitig in geringerem Maße positive Gefühlszustände aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit erleben (Lücken/Simon 2005).
1.2Grundlegende theoretische Perspektiven der Gruppenforschung
Der folgende Abschnitt gibt einen kurzen – und angesichts des Zweckes des vorliegenden Buches notwendigerweise selektiven – Überblick über einflussreiche theoretische Perspektiven der sozialpsychologischen Gruppenforschung.
1.2.1Persönlichkeit und individuelle Differenzen
Die historische Entwicklung der sozialpsychologischen (Inter-)Gruppenforschung am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde von zwei unterschiedlichen Perspektiven dieser Zeit geprägt: einerseits von Forschungsarbeiten, die kollektive Phänomene wie Kultur, Massen, Gesellschaft und die Beziehungen zwischen Gruppen in den Mittelpunkt stellten; andererseits von Forschungsarbeiten der experimentellen Psychologie, die sich auf die Erforschung individueller Phänomene beschränkte.
Letzter Ansatz geht davon aus, dass sich das Verhalten von Menschen in Gruppen (wie das Verhalten von Menschen allgemein) unmittelbar aus ihren individuellen Eigenschaften, Präferenzen und Interessen ableiten lässt. Um es mit Floyd Allport, dem Verfasser eines der ersten Lehrbücher für Sozialpsychologie auszudrücken: „There is no psychology of groups which is not essentially and entirely a psychology of individuals“ (Allport 1924, 4).
Die sozialpsychologische Forschung hat eine Vielzahl von Persönlichkeitseigenschaften und individuellen Differenzen identifiziert, die einen Beitrag zur Erklärung von Gruppenverhalten leisten (➔ z. B. in Kapitel 3: individuelles Selbstwertgefühl als Moderator der Effekte der Anwesenheit anderer Personen auf die eigene Leistung; in Kapitel 5: soziale Dominanzorientierung als Determinante von Vorurteilen; in Kapitel 7: politische Selbstwirksamkeitserwartung als Erklärung interindividueller Differenzen politischer Partizipation). Persönlichkeits- oder eigenschaftsbasierte Ansätze erklären allerdings nur unzureichend, warum sich Menschen als Mitglieder von Gruppen häufig anders verhalten als es ihre persönlichen Eigenschaften erwarten lassen (z. B. kooperativer und freundlicher gegenüber Mitgliedern ihrer Eigengruppe und wettbewerbsorientierter und feindseliger gegenüber Mitgliedern einer Fremdgruppe). Tatsächlich legt die empirische Forschung, entgegen dem Allport’schen Postulat, eine Diskontinuität zwischen individuellem Verhalten und Gruppenverhalten nahe, sodass man nicht einfach von den Eigenschaften von Individuen auf ihr Verhalten in Gruppensituationen extrapolieren kann (Sherif 1962, 5).
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