An Swetlana rauschte der Ausbruch ihres Vaters vorbei. Was lag ihr daran, was die Leute redeten oder dachten? Sie kümmerte es nicht, denn sie war an einem Punkt angelangt, wo die gesellschaftliche Médisance zu etwas völlig Unbedeutendem zusammenschrumpfte.
Wenn man nicht weiß, was wirklich Schmerz ist, mag man vielleicht über einem Schnitt in den Finger in Tränen ausbrechen. Aber wenn man erfahren hat, wie grauenvoll ein Mensch leidet, der von brutalen Fäusten halb tot geprügelt worden ist, dann verblassen solch kleine Blessuren zu etwas, worüber man nur noch zu lächeln vermag.
Swetlana war vom Schicksal halb tot geprügelt worden, und sie konnte sich nicht vorstellen, daß sie sich jemals wieder erholte.
»Man muß sie nach Kowistowo bringen«, hörte sie ihre Mutter sagen. »Dort kann sie das Kind bekommen, und dann geben wir es weg. Auf diese Weise wird hier niemand etwas erfahren. Man sieht ihr ja zum Glück noch nichts an.«
»Aber in Kowistowo wird man es ihr ansehen, wenn ihr Bauch anschwillt wie ein Ballon. Kennt man uns dort vielleicht nicht, he? Und wenn die Leute auf dem Gut Bescheid wissen, tratschen sie es weiter – zu den Dienstboten der Blenheims, der Tschigorows, der Petschorins, und hui, weiß es die Herrschaft ebenfalls und posaunt es überall herum, bis nach Petersburg und Moskau. Nein, nein, sie muß irgendwohin, wo niemand uns kennt. Am besten ins Ausland, und ihr reist natürlich unter anderem Namen.«
»Wir?« wiederholte Wera Karlowna, und ihr Mann nickte, puterrot im Gesicht.
»Soll sie vielleicht allein herumzigeunern? Du wirst sie begleiten und dafür sorgen, daß sie nicht noch mehr Schande über uns bringt.«
Swetlana grub die Nägel in die Handflächen. In diesem Augenblick haßte sie ihren Vater aus tiefstem Herzen.
Er wollte ihr das Kind nehmen, und er verfügte über sie, als wäre sie seine Leibeigene. Die Bauern waren von der Leibeigenschaft befreit worden, aber an ihre Stelle waren bei Männern wie ihrem Vater die Frauen und Töchter getreten. Sie übten Gewalt über sie aus und meinten noch, das sei gut und richtig so.
Ich will mein Kind behalten, dachte Swetlana trotzig. Aber sie wußte nicht, wie sie das bewerkstelligen sollte – es sei denn, die Zarin half ihr.
Graf Lasarow hatte verfügt, daß Swetlana mit ihrer Mutter bereits eine Woche später abreisen sollte, zunächst nach Polen und dann weiter nach Berlin. Dort sollten sie bleiben, bis das Kind geboren war und man es fortgeben konnte.
Aber die Aufregungen hatten Wera Karlowna krank gemacht. Sie bekam Fieber und mußte das Bett hüten.
Zwar versuchte sie, zwischendurch immer wieder aufzustehen, um das Packen der Sachen zu beaufsichtigen, denn da man mehrere Monate lang wegbleiben wollte, war eine Menge an Kleidern, Mänteln, Schuhen und Accessoires mitzunehmen.
Doch gerade dadurch verzögerte sich Wera Karlownas Genesung, so daß an eine Abreise noch nicht zu denken war.
Im übrigen sorgte Graf Lasarow selbst dafür, daß die Dienstboten von der Schwangerschaft seiner ältesten Tochter erfuhren.
Schon sein erster lautstarker Auftritt in Swetlanas Zimmer war im Haus zu hören gewesen, und in den folgenden Tagen legte sich Pawel Konstantinowitsch ebenfalls keine Zügel an, sobald er Swetlana ansichtig wurde, so daß selbst die halb taube Gärtnersfrau Mura Ossipowna begriff, was passiert war.
Gerede aber kann sich in der Tat schneller verbreiten, als ein Vogel fliegt.
Matwej, einer der Lasarowschen Kutscher, stieg der Zofe der Generalin Bogdanowitsch nach, und er hatte nichts Eiligeres zu tun, als der hübschen Walentina brühwarm von dem Streit im Haus seiner Herrschaft zu erzählen. Walentina überbrachte die pikante Neuigkeit der Generalin zusammen mit der Morgenschokolade, und da die Bogdanowitsch ein sehr gastfreies Haus führte, in dem sich allabendlich die elegante Petersburger Gesellschaft ein Stelldichein gab, machte der Tratsch über Swetlana Lasarowa in Windeseile die Runde.
Man rechnete nach und schüttelte die Köpfe. Also, von Rittmeister Barschewskij konnte das Kind nicht sein, dazu war er schon zu lange tot. Zumindest hätte man Swetlana dann ihre Schwangerschaft längst ansehen müssen.
Wer aber war dann der Vater? Fürst Soklow vielleicht, der sich mit dem unglücklichen Boris Petrowitsch duelliert hatte?
Oder gab es noch einen Dritten, mit dem es die Lasarowa in aller Heimlichkeit getrieben hatte?
Darüber erhitzten sich die Gemüter. Die einen wollten wissen, daß Fürst Soklow tatsächlich Swetlanas Liebhaber sei und Barschewskij ihn deshalb gefordert habe. Andere behaupteten, man habe Swetlana einige Male in Herrenbegleitung in zwielichtigen Lokalen gesehen, jedesmal mit einem anderen Kavalier, versteht sich, und wieder andere erzählten, das Kind, das sie erwarte, sei von einem Schmied auf ihrem elterlichen Gut, mit dem sie es nach Boris’ Tod schamlos getrieben hätte. Darum hätte ihre Mutter sie dann auch Knall auf Fall wieder nach Petersburg zurückgebracht.
Die Gerüchteküche summte, wobei die Damen mit tiefster Mißbilligung und wohligem Entsetzen über Swetlana herfielen und die Herren ein gewisses Funkeln in den Augen hatte.
Sie sei ja wirklich ein rassiges Frauenzimmer, die kleine Swetlana Pawlowna, und schon eine Todsünde wert.
Natürlich erfuhr auch Leonid Soklow von dem Gerede. Prinz Katjubin berichtete es ihm während eines gemeinsamen Champagnerfrühstücks und zwinkerte ihm grinsend zu.
»Du bist vielleicht ein durchtriebener Gauner, mein lieber Leonid Iwanowitsch! Erst bringst du den Verlobten der Kleinen durch deine Andeutungen so weit, daß ihr euch duelliert, dann schaltest du ihn mit einem Pistolenschuß aus, damit du freie Bahn hast, und zu guter Letzt drehst du ihr noch ein Kind an! Das einzige, was ich bei der ganzen Sache nicht verstehe, ist, warum der Zar sich persönlich eingemischt hat, damit die eigentliche Ursache des Duells nicht bekannt wurde.«
Soklow nahm sich eines von den Kaviarblinis, die der Kellner gerade serviert hatte, und gab einen Löffel saure Sahne darüber.
»Seine Majestät wollte nicht, daß der Name von Swetlana Pawlowna im Mittelpunkt eines Skandals stand. Soviel ich weiß, hat die Zarin einen Narren an ihr gefressen. Man sagt, sie sei sogar schon zum Tee bei Ihrer Majestät gewesen. Und wir kennen ja unsere allergnädigste Kaiserin: Sie duldet keine Unmoral in ihrer Umgebung. Ihre Protéges müssen allesamt reine weiße Lämmchen sein. Und wenn eines doch ein paar schwarze Flecken aufweist, wird es eben reingewaschen.«
Katjubin pfiff durch die Zähne. »Aber sag, ist es wirklich wahr, daß die Lasarowa von dir schwanger ist?«
Soklow spülte einen Bissen Blini mit Champagner hinunter. »Verdammt, das Zeug ist schon wieder lauwarm! Trink aus, Katjubin, damit wir frischen bestellen können.«
Er winkte dem Ober und orderte eine weitere Flasche. Erst dann wandte er sich wieder dem Prinzen zu. »Warte eine kleine Weile, mein Freund, dann wirst du es erfahren. Im Augenblick erscheint es mir undelikat, darüber zu sprechen.«
Noch am selben Tag fuhr er ins Lasarowsche Palais und bat darum, Pawel Konstantinowitsch sprechen zu dürfen. Ohne lange Umschweife hielt er bei ihm um Swetlanas Hand an.
Graf Lasarow reagierte mit großer Verlegenheit. »Mein lieber Leonid Iwanowitsch, ich weiß die Ehre Ihres Antrags natürlich außerordentlich zu schätzen. Aber es gibt gewisse Gründe, ihn dennoch abzulehnen, so schwer es mir fällt. Leider sehe ich mich gezwungen, Swetlana für längere Zeit auf Reisen zu schicken, sobald ihre Mutter gesundheitlich dazu in der Lage ist. Ich will nicht mehr zu dieser Angelegenheit sagen als nur das: Sie mögen meine Tochter für ein untadeliges junges Mädchen halten, würdig, eine Fürstin Soklowa zu werden, aber ...«
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