Er klingelte nach einer Ordonnanz, und gleich darauf trat ein junger Ulanenleutnant ein. »Lassen Sie zu Graf Lasarow schicken. Er möchte mich unverzüglich aufsuchen, ebenso Fürst Soklow. Das heißt, den Fürsten möchte ich zuerst sprechen. Graf Lasarow mag eine halbe Stunde später kommen.«
Der Leutnant salutierte. »Zu Befehl, Kaiserliche Majestät.«
»Ich danke dir«, sagte Georg herzlich, nachdem er mit seinem Bruder wieder allein war, und drückte ihm die Hand. »Manchmal ist es doch sehr nützlich, der Zarenbruder zu sein.«
Nikolaus erwiderte sein Lächeln nicht. »Ein kleiner Ausgleich für die Schwierigkeiten, die du gar nicht erst hättest, wenn du ein einfacher Iwan Iwanowitsch wärst! Aber was sollen wir tun? Gott legt uns die Lasten auf, und wir müssen sie tragen.«
Der Großfürst erfuhr nicht im einzelnen, auf welche Weise es dem Zaren gelungen war, die wirklichen Hintergründe des Duells nicht an die Öffentlichkeit dringen zu lassen.
Auf jeden Fall erreichte er, daß Swetlanas Name nicht in Zusammenhang damit gebracht wurde. Fürst Soklow und Boris Barschewskij hatten sich duelliert – warum, wußte man nicht, denn die Beteiligten sowie alle Augen- und Ohrenzeugen des vorangegangenen Streites berichteten lediglich, es sei eine Auseinandersetzung zwischen zwei Betrunkenen gewesen, in deren Verlauf Boris Petrowitsch den Fürsten geohrfeigt habe, so daß diesem gar nichts anderes übriggeblieben sei, als ihn zu fordern.
Das allgemeine Mitleid galt Boris’ Vater und Swetlana, die kurz vor der Hochzeit ihren Bräutigam auf so tragische Weise verloren hatte. Natürlich sah man sie nicht mehr in der Öffentlichkeit, und ihr Vater erzählte, sie sei für einige Zeit mit ihrer Mutter und ihren Schwestern nach Kowistowo, dem Landgut der Familie, zurückgekehrt.
Graf Pawel Lasarow hatte darauf bestanden, daß Swetlana vorerst nicht mehr mit dem Großfürsten zusammentraf, dies übrigens im Einverständnis mit dem Zaren, um zu verhindern, daß die Affäre bekannt wurde. Außerdem hoffte Nikolaus, eine längere Trennung werde die Gefühle der beiden füreinander abkühlen, so daß man Georg eines Tages vielleicht doch noch seinem Rang entsprechend verheiraten konnte.
Auch die Zarin hatte diese Trennung verlangt. Zwar war sie ihrem Schwager herzlich zugetan, und da sie auch Swetlana ganz reizend fand, begriff sie, daß er sich Hals über Kopf in die hübscheste Debütantin des letzten Winters verliebt hatte.
Andererseits widerstrebte es ihrem sittenstrengen Wesen, ein Verhältnis zu goutieren, das in ihren Augen ›sündig‹ war, und sie hätte es lieber heute als morgen beendet gesehen.
Es waren triste Wochen, die Swetlana in Kowistowo verbrachte. Ihre jüngste Schwester Irina sehnte sich nach den Petersburger Vergnügungen und ihren Freundinnen zurück, Xenia versuchte zwar, ihrer ältesten Schwester beizustehen, so gut sie es vermochte, doch auch sie fand es höchst ärgerlich, daß sie gezwungen war, ihre Schulausbildung in der Hauptstadt zu unterbrechen und wieder von Miss Sheldon und ihrem früheren Hauslehrer Maurice Selbmann unterrichtet zu werden.
Swetlana durchlebte die Zeit nach Boris’ Tod in einer Art dumpfer Betäubung. Sie fühlte sich schuldig, und da sie ihn aufrichtig gern gehabt hatte, kam sie nur schwer darüber hinweg.
»Hätte ich nur rechtzeitig mit ihm gesprochen und ihm die Wahrheit gesagt«, klagte sie sich immer wieder an. »Dann hätte dieses Duell nie stattgefunden.«
Xenia, die Praktische, Nüchterne, widersprach. »Unsinn! Soklow hatte es darauf angelegt, sich mit ihm zu schießen. So oder so hätte er Boris herausgefordert. Mach dir keine Vorwürfe, Männer sind in solchen Dingen absolut unbegreiflich. Sie ziehen mit Gesang und strahlenden Augen in den Krieg, und sie duellieren sich mit der gleichen Begeisterung, als wäre es ein heldenhaftes Vergnügen, totgeschossen zu werden. Ich werde so etwas nie verstehen.«
Aber ihre Worte richteten nichts bei Swetlana aus. »Boris würde noch leben, wenn es mich nicht gäbe – oder wenn ich ihm treu geblieben wäre«, beharrte sie. »Er wird mir nie vergeben!«
Und sie vergab es sich auch nicht. Es war ihre selbstauferlegte Buße, immer wieder daran zu denken und sich ihre Schuld vor Augen zu führen. Ihre Mutter machte es um nichts leichter, weil sie wie der personifizierte Vorwurf herumlief und täglich von dem ›armen, lieben Boris‹ sprach, der ein so guter Mensch gewesen sei und dieses grausame Schicksal nicht verdient hatte.
Und dann kam eines Tages Georg nach Kiew. Er reiste inkognito und war unter dem Namen ›Graf Blomquist‹ im Grand Hotel abgestiegen, wie er Swetlana in einem hastig hingekritzelten Billett mitteilte.
Ich habe es nicht mehr ausgehalten, ich muß Dich sehen, mein Herz. Bitte, komm zu mir. Wenn man Dich nicht fortläßt, werde ich morgen bei Dir in Kowistowo sein!
Wera Karlowna hatte den Boten abgefangen und ließ Swetlana rufen. »Der Großfürst ist in Kiew. Er will dich sprechen«, sagte sie nervös.
Dies war eine Situation, die sie überforderte. Sie wußte nicht, wie sie sich verhalten sollte, und ihr Gatte, den sie hätte um Rat fragen können, war in St. Petersburg.
Sie reichte Swetlana den Brief mit spitzen Fingern, als sei es schon verdammenswert, ihn zu berühren. Aus bereits wieder tränenfeuchten Augen sah sie Swetlana an, während diese die wenigen Zeilen las.
Ihre Tochter – die Mätresse des Zarewitsch! Was für eine entsetzliche Situation! Jeden anderen Mann könnte sie kraft ihrer mütterlichen Autorität zurückweisen, ihm das Verderbliche seines Tuns vor Augen halten, aber doch nicht dem Thronfolger und Zarenbruder!
Der Zar ist allmächtig, Gott allein zur Rechenschaft verpflichtet, und wir sind Untertanen seines Willens. Er kann uns erheben, wenn es ihm gefällt, oder mit seinem Fuß zermalmen. Dies war Wera Karlownas zweites Glaubensbekenntnis, in dem sie erzogen worden war, und ihr Mann dachte nicht anders. Was also sollte sie nun tun?
Swetlana enthob sie zunächst einer Entscheidung, denn sie erklärte: »Ich kann ihn nicht sehen. Ich darf es nicht.« Dann begann sie zu weinen.
»Aber er wird herkommen«, hielt Wera Karlowna ihr vor. »Und was soll ich ihm sagen, wenn du dich weigerst, mit ihm zu sprechen?«
»Die Wahrheit«, erwiderte Swetlana. »Ich habe Boris Petrowitsch großes Unrecht zugerügt, und ich kann nur versuchen, es wiedergutzumachen, indem ich Georg nicht mehr treffe.«
Sie war tatsächlich fest dazu entschlossen. Doch am nächsten Morgen kam Georg wie angekündigt nach Kowistowo, und Swetlana sah ihn vom Fenster ihres Zimmers aus, wie er von dem leichten Landauer stieg, den er selbst lenkte.
Er trug Zivil, einen hellen karierten Anzug und einen weichen Filzhut mit gebogener Krempe, unter dem sein blondes Haar in der Frühsommersonne leuchtete, und Swetlanas Herz flog ihm entgegen.
Die Liebe zu ihm, die sie so gern in sich niedergekämpft hätte, erfüllte sie mit Trauer und Glück und einer jähen, zitternden Erwartung.
So wie sie war, in ihrem mauvefarbenen Morgenkleid aus mit dunkelvioletten Streublümchen bestickten Musselin, lief sie die Treppe hinunter in die Halle, wo gerade ihre Mutter erschien und in einer tiefen Verneigung vor Gregor versank.
»Kaiserliche Hoheit«, stammelte Wera Karlowna, »welch eine Ehre, daß Sie unser bescheidenes Heim ...«
Georg reichte ihr die Hand und zog sie hoch. »Nicht doch. Teuerste. Lediglich Graf Blomquist stattet Ihnen einen Besuch ab. Da ich in Kiew war, wollte ich keinesfalls versäumen ...« Er verstummte, weil Swetlana auftauchte, und umfing ihre Gestalt mit einem Blick voll unbeschreiblicher Zärtlichkeit.
Ein, zwei Sekunden standen sie, durch die Breite der Halle getrennt, voreinander und sahen sich an. Dann machte Georg einen Schritt auf Swetlana zu, und sie flog, wie von unsichtbaren Fäden gezogen, an seine Brust.
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