Soklow, der sie beobachtete, legte ihr flüchtig die Hand auf den Arm. »Echauffieren Sie sich nicht so, meine Liebe. Seine Kaiserliche Hoheit trägt sein Leiden mit großer Tapferkeit und möchte nicht, daß man allzu mitleidig darauf reagiert.«
Sie wich seiner Berührung aus. »Ich bin nur so erschrokken, weil ... weil ich keine Ahnung von seiner Krankheit hatte.«
Das Gespräch brach ab, da das Kammerorchester zu spielen begann, und der Fürst lehnte sich mit verschränkten Armen in seinem Sessel zurück. Er saß schräg hinter Swetlana und konnte sehen, wie sie immer wieder zu Georg hinunterblickte und dabei nervös ihren Spitzenfächer zwischen den Fingern drehte.
In der Konzertpause wurden Champagner und kleine Pasteten gereicht. Swetlana trank zwei Gläser hintereinander. Essen konnte sie nichts. Sie stand auf und entschuldigte sich bei ihren Eltern. »Ich habe auf der gegenüberliegenden Seite Natalja Lipkina gesehen und möchte sie einladen, morgen mit mir und Boris Petrowitsch zum Eislaufen zu kommen.«
»Geh nur, Kind«, erwiderte Wera Karlowna und nickte ihr in ihrer üblichen zerstreuten Art zu. »Und grüße die Lipkins von Papa und mir.«
Swetlana wechselte nur ein paar Worte mit Natalja, die zu ihren neugewonnenen Petersburger Freundinnen gehörte. Dann verließ sie den Saal durch einen Nebenausgang und lief die Treppe ins Erdgeschoß hinunter. Sie hörte, wie drinnen das Konzert fortgesetzt wurde, aber sie meinte, keinen Augenblick länger ruhig in ihrem Sessel sitzen und der Musik – es war diesmal ein Duett aus irgendeiner italienischen Buffo-Oper – zuhören zu können.
Statt dessen trat sie auf die kleine Terrasse hinaus, die sie an der rückwärtigen Front des Vorsaals entdeckte.
Beißende Kälte empfing sie, so daß sie in ihrem rosefarbenen Samtkleid zusammenschauerte.
Trotzdem blieb sie für eine Weile draußen und starrte in den Himmel, über den schwere Wolken zogen, die neuen Schnee verhießen.
Als Swetlana sich umwandte, um in die schützende Wärme der Eremitage zurückzukehren, stand plötzlich Georg Alexandrowitsch vor ihr.
»Ich habe gesehen, daß du fort warst«, sagte er, »und da bin ich dich suchen gegangen. Ich dachte, wir müßten noch einmal miteinander reden. Warum bist du neulich nicht gekommen? Ich habe fast zwei Stunden gewartet, weil ich nicht glauben wollte, daß du dich mir entziehst.«
»Muß ich das nicht, Kaiserliche Hoheit?« fragte sie, und statt einer Antwort legte er die Arme um sie.
»Das mußt du«, erwiderte er und bedeckte ihr Gesicht mit unzähligen kleinen Küssen. Dann nahm er ihre Hand und zog Swetlana mit sich in einen kleinen, offenbar unbenutzten Salon, dessen Polstermöbel mit weißen Leinenfüchern abgedeckt waren.
Im Schein der Wandlampen, die er angeknipst hatte, betrachtete er Swetlana.
»Ich brauche dich so sehr«, sagte er. »Ich habe versucht, es mir auszureden, aber es geht nicht. Du und ich – wir sind wie die zwei Hälften einer Nußschale, die zusammenpassen. Die Franzosen nennen so etwas einen Coup de foudre. Und sag selbst, war es nicht so zwischen uns? Wir haben einander gesehen, und es war, als ob ein Blitz uns getroffen hätte und alles auslöschte, was vordem für uns wichtig war.«
Sie wich zurück, als er auf sie zukam. »Nein! Das sind Hirngespinste. Ich will das nicht. Bitte, Kaiserliche Hoheit, lassen Sie mich gehen.«
Er sah eine kleine Ader an ihrem Hals pochen und preßte seinen Mund darauf. »So schön ...«, murmelte er. »So schön!«
Sie wußte, daß sie verloren war, wenn sie ihm nur einen halben Schritt entgegenkam. Trotzdem legte sie die Arme um seinen Hals, bog den Kopf zurück und stöhnte auf, als Georg fortfuhr, sie zu küssen, ihren Hals, die Schläfen, die geschlossenen Augen, den Mund.
Sie zitterten beide, und Swetlana dachte: Es ist Wahnsinn. Es wird niemals irgendeine Chance für uns geben, aber es ist mir egal. Er hat ja recht: Außer ihm gibt es nichts mehr, das für mich zählt.
Sie küßten einander, berührten sich, scheu zunächst, als seien sie in einem Zauber gefangen, erkundeten ihre Münder, ihre Körper, bis Swetlana meinte, es nicht mehr aushalten zu können, und sich aus Georg Umarmung zu lösen versuchte.
Er gab ihr nach, ließ sie los, und ihr war zumute, als sei sie beraubt worden, weil sie nicht mehr an seiner Brust lag.
Diesmal war sie es, die zu ihm kam, mit allem Ungestüm ihrer Liebe, und er umfaßte ihr Gesicht und legte mit seinen Lippen eine zärtliche Spur darüber.
Ach, er war so schön, und es tat so gut, in seinen Armen zu sein!
»Werden wir uns wiedersehen?« fragte Georg, und Swetlana nickte.
»Wo?« wollte sie nur wissen. »Und wann?«
Er dachte eine Weile nach. Dann sagte er: »Ich werde eine Wohnung mieten. Ich sende dir Nachricht. Aber diesmal mußt du wirklich kommen.«
»Ich schwöre es«, erwiderte sie mit dem ganzen Ernst ihrer siebzehn Jahre, und dann küßten sie einander wieder, bis draußen im Treppenhaus Schritte und Stimmen laut wurden.
»Das Konzert ist zu Ende«, flüsterte Georg. »Geh du voraus. Ich komme später nach.«
An der Tür flog sie noch einmal an seine Brust, und er preßte seine Lippen auf ihren Mund. Und Swetlana wußte immer noch, daß alles vollkommen hoffnungslos und verfahren war – und war dennoch glücklich.
Georg mietete eine Wohnung an der Sergijewskaja, nicht weit vom Newskij-Prospekt entfernt. Schon zwei Tage später, als Swetlana mit Miss Sheldon eine Teestube verließ, wo sie sich nach einem längeren Einkaufsbummel aufgewärmt hatten, drückte ihr jemand einen Zettel in die Hand, auf dem nur die Adresse stand und: Morgen, vier Uhr nachmittags!
Es war ein Bettler, der von Miss Sheldon ein paar Kopeken bekommen hatte und sich auf das Aufdringlichste bedankte. Er grapschte zunächst nach der Hand der Engländerin, schwor den Segen sämtlicher Heiliger auf sie herab und wiederholte die Aufzählung, während er Swetlanas Finger zu küssen versuchte. Er sah schmutzig und heruntergekommen aus, und sie wollte hastig die Hand zurückziehen, als sie spürte, wie er ein Blatt Papier in ihren Handschuh schob.
»Gott segne Euer Gnaden«, sagte er dabei, »und schenke Euch alles Glück, nach dem Ihr Euch sehnt.« Dabei zwinkerte er ihr zu, drückte noch einmal ihre Finger, ehe er von ihr abließ und eilig davonhumpelte.
»Das war Ossip«, sagte Georg Alexandrowitsch, als Swetlana sich am nächsten Tag zur verabredeten Zeit in der Sergijewskaja einfand. Der Großfürst hatte vor dem Portal auf sie gewartet. Er trug Zivil, einen weiten pelzgefütterten Mantel und eine Bärenfellmütze, die er tief in die Stirn gedrückt hatte.
Die Wohnung lag im ersten Stock, drei großzügig möblierte ineinandergehende Räume mit einer Küche und einem winzigen Badezimmer. Die Fensterfront ging auf einen Garten hinaus.
»Ossip ist mein Diener, er ist absolut verschwiegen und zu verlässig – und sehr gewitzt, wie du bemerkt haben wirst. Die Verkleidung als Bettler war seine Idee.«
Die Wohnung war behaglich durchwärmt, in allen Kaminen ein Feuer entzündet, und im Salon stand ein Samowar auf dem Tisch, daneben eine Platte mit kleinen Kuchen und ein eisgefüllter silberner Kübel mit Champagner.
Georg nahm Swetlana Muff und Mantel ab, streifte ihr die Pelzmütze vom Haar und warf alles achtlos auf ein Sofa. »Und du? Hattest du Schwierigkeiten, von daheim fortzukommen?«
Sie lächelte zu ihm hoch. »Ich bin einfach weggegangen, ohne jemandem etwas zu sagen.«
»Und wenn man dich bei deiner Heimkehr fragt?«
»Dann werde ich sagen, daß ich spazieren war.«
»Gut, gut, aber du wirst dich nicht immer damit herausreden können.« Er nahm ihre Hände und küßte sie, und die Berührung seiner Lippen weckte eine kleine prickelnde Erregung in ihr, die sie genoß.
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