1 ...7 8 9 11 12 13 ...41 Die Wachen schossen nun blindwütig in die Menschen. Der Einarmige in seiner zerrissenen Uniform, der noch immer auf dem Mauersockel stand und schrie: »So bleibt doch! Weicht nicht zurück!« wurde von einer Kugel in den Hals getroffen. Ein, zwei Sekunden stand er noch, schwankte wie ein Betrunkener hin und her, während das Blut, das aus seiner Kehle floß, seine Kleider benetzte, und stürzte dann in einer grotesken Drehung auf die verschneite Erde.
Die Frau im Kutschermantel hatte sich hinter einem umgestürzten Tisch verschanzt. Als sie versuchte, dahinter hervorzukriechen, um zur Pforte zu gelangen, traf sie gleichfalls ein Schuß.
Sie riß die Arme hoch, schrie gellend auf, ehe sie nach vorn kippte und auf Händen und Knien noch ein paar Schritte weiterzukommen versuchte. Sie schaffte es nicht mehr. Blut lief ihr aus Mund und Nase, und sie krallte die Hände in den Schnee und starb.
Später zählte man mehr als achtzig Tote, die erschossen oder niedergetrampelt worden waren. Man brachte sie nach draußen in eine dunkle Seitengasse neben dem Lasarowschen Palast, die zur Mojka hinunterführte. Polizisten sperrten das Gelände ab, untersuchten die Leichen, ob unter ihnen bereits bekannte subversive Elemente waren, und ließ sie dann auf großen Pferdeschlitten abtransportieren.
Es waren zu viele, um sie einfach in einem Eisloch in der Newa zu versenken. So würde man wohl weit draußen vor der Stadt ein neues Massengrab ausheben müssen. Verdammte Aufrührer! Selbst im Tod machten sie noch Scherereien. Die Erde war eisenhart gefroren. Man würde Sprengungen vornehmen müssen, um das Loch tief genug zu machen.
Von den Wachsoldaten war keiner ernstlich verletzt. Einige hatten Brandwunden von den brennenden Holzscheiten davongetragen, zwei oder drei ein paar Beulen und blutige Schrammen, und Graf Lasarow, den man von dem Zwischenfall unterrichtet hatte, verließ die Verlobungsfeier seiner Tochter, um den Männern persönlich zu danken und anzuordnen, daß sie auf das Beste versorgt wurden.
Der Haupttrakt des Palastes, wo sich die Gesellschaftsräume befanden, lag weit genug von den Wirtschaftsgebäuden entfernt, so daß man dort kaum etwas von dem Tumult gehört hatte.
Freilich meinten einige, es seien irgendwo Schüsse gefallen, doch niemand kümmerte sich darum. Neuerdings wurde häufig geschossen in St. Petersburg, um verbotene Demonstrationen aufzulösen oder irgendwelche anarchistischen Vereinigungen auszuheben.
Graf Lasarow legte Dienern und Wachen, die um die Vorgänge wußten, strengstes Stillschweigen darüber auf, damit kein Schatten auf das glänzende Fest fiel, und kehrte zu seinen Gästen zurück.
Gegen elf Uhr abends traf das Zarenpaar ein. In seiner Begleitung befanden sich außer den kaiserlichen Adjutanten und den üblichen Ehrendamen auch der jüngere Bruder von Nikolaus II., Großfürst Georg Alexandrowitsch, der vor vier Jahren offiziell zum Zarewitsch ernannt worden war, da Zarin Alexandra bis jetzt noch keinen männlichen Thronerben geboren hatte.
Georg war gerade von einer Auslandsreise zurückgekehrt und beugte sich mit einem charmanten Lächeln über Swetlanas Hand, als sie ihm vorgestellt wurde.
Er hatte die gleichen blauen Augen wie sein Bruder, war blond und breitschultrig und war, so hatte Swetlana schon vor der Begegnung mit ihm sagen hören, der bestaussehende Mann des ganzen Hofes.
Aber er sah nicht nur gut aus. Er wirkte klug und herzlich, und seine strahlende, offene Art machte ihn sogleich zum Mittelpunkt jeder Gesellschaft.
»Meine allerherzlichsten Glückwünsche zu Ihrer Verlobung, Swetlana Pawlowna«, sagte er, und es klang keineswegs wie die erwartete Floskel, sondern warm und aufrichtig. Ungeniert betrachtete Georg ihr Gesicht. »Obwohl es andererseits natürlich ein Jammer ist, daß eine so bezaubernde junge Dame schon im ersten Winter ihres Petersburger Aufenthaltes eine feste Bindung eingeht. Wollen Sie sich die Sache nicht noch einmal überlegen?«
»Nein, Kaiserliche Hoheit«, antwortete sie und fragte sich im selben Augenblick, ob sie sich nicht in der Tat zu schnell für Boris Petrowitsch entschieden hatte, viel zu schnell ...
Hastig blickte sie zu ihrem Verlobten hoch. Sie spürte den leichten Druck seiner Finger auf ihrem Arm und stieß den Atem aus.
Guter, lieber Boris! Wie konnte sie so etwas nur denken! Sie war doch ganz sicher gewesen, und natürlich würden sie sehr glücklich miteinander werden.
»Schade«, sagte der Großfürst leichthin und wandte sich Swetlanas Verlobtem zu. »Ihnen muß man kein Glück wünschen, mein lieber Barschewskij. Sie haben es bereits. Halten Sie es gut fest.«
»Das werde ich, Kaiserliche Hoheit.« Boris schlug die Hacken zusammen und verneigte sich. Seine Augen glänzten, und er war offensichtlich sehr stolz darauf, daß der Großfürst seine Braut so reizend fand.
Später, als sie miteinander tanzten, sagte Boris ihr das auch. »Du hast großen Eindruck auf Seine Kaiserliche Hoheit gemacht, Swetlana. Aber das ist kein Wunder. Wer wäre nicht von dir hingerissen!«
Sie wehrte lachend ab. »Du übertreibst wie immer!« Aber in ihrem Inneren hatten seine Worte eine kleine Unruhe geweckt. Gefiel sie dem Großfürsten tatsächlich?
Georg Alexandrowitsch saß neben der Zarin auf einem Sofa in einer Fensternische des großen Ballsaales. Er hatte noch nicht getanzt, sondern unterhielt sich angeregt mit seiner Schwägerin. Swetlana sah, daß die beiden einander ganz offensichtlich zugetan waren. Die Art, wie die Zarin beim Gespräch die Hand auf seinen Arm legte, verriet viel freundschaftliche Vertrautheit.
Alexandra Fjodorowna sah kränklich aus an diesem Abend. Dazu mochte zwar auch ihr lindgrünes Samtkleid beitragen, das sie noch blasser machte, als sie ohnehin war, aber zudem hatte sie einen leidenden Zug um den Mund, und ihre Augen wirkten glanzlos und verschleiert, als hätte sie geweint.
Dennoch forderte sie nach einer Weile Swetlanas Vater zum Tanz auf und anschließend Boris Petrowitsch. Aber man sah ihr an, daß sie damit nur eine Pflicht erfüllte.
Auf Grund ihrer hohen Stellung wählten die Mitglieder der Zarenfamilie sich ihre Tanzpartner immer selbst aus; es wäre ein unglaublicher faux pas gewesen, wenn ein anderer sie dazu aufgefordert hätte.
Der Zar tanzte, wie es die Höflichkeit gebot, zuerst mit Wera Karlowna. Swetlana beobachtete, wie ihre Mutter in seinen Armen förmlich dahinschmolz. Sie genoß dieses Verlobungsfest in vollen Zügen.
Nachdem der Kaiser sie nach Beendigung des Tanzes zu ihrem Gatten zurückgebracht hatte, verneigte er sich leicht vor ihr und kam dann auf Swetlana zu.
»Werden auch Sie mir die Ehre eines Tanzes erweisen, Swetlana Pawlowna?« fragte er in seiner freundlichen, zurückhaltenden Art, und sie stand auf und spürte, wie ihr Herz vor Aufregung und Freude heftig zu klopfen begann.
Nikolaus II. war ein sehr guter Tänzer; es machte Spaß, sich von ihm führen zu lassen. Allerdings blickte er aus den Augenwinkeln immer wieder einmal zu seiner Frau hinüber, die noch mit Boris tanzte. Dann meinte Swetlana, Sorge und Unruhe in seinen sanften blauen Augen aufblitzen zu sehen.
Die Zarin und Boris beendeten den Walzer, und er führte sie zu ihrem Sofa zurück, wo sie sich wieder neben ihrem Schwager niederließ. Offenbar war ihr heiß geworden, denn sie tupfte sich ein paarmal mit einem Spitzentuch über Stirn und Oberlippe.
Dennoch setzte sie ein unbeschwertes Lächeln auf, als ihr Mann auf sie zukam. »Was für ein gelungenes Fest«, sagte sie und nickte Swetlana zu. »Ich wünschte, Seine Majestät und ich hätten ebenfalls eine solch harmonische Feier gehabt, als wir uns verlobten. Leider war es nicht der Fall.« Sie blickte zu ihrem Mann auf und schob ihre Hand in die seine. »Trotzdem waren wir sehr glücklich, auch, wenn wir lange darum kämpfen mußten, daß wir ein Paar werden durften.«
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