»Und warum nicht?«
»Weil dann vermutlich auch alles zerstört würde, was gut und schön ist an unserem Leben. Die alten Ideale, der Zauber, der jetzt noch über allem liegt, auch wenn sich viel Brüchiges darunter verbirgt ... Rußland ist krank, Swetlana Pawlowna, aber es kann wieder genesen, wenn der Zar es will. Er allein hat die Möglichkeit, Altes und Neues zu einem festen Gefüge zusammenzuschmieden.«
Er verstummte und drückte ihren Arm. »Aber das ist wirklich kein Gesprächsstoff für diesen wunderschönen Tag mit Ihnen. Ich bin so glücklich, daß ich einmal mit Ihnen allein sein kann, Swetlana Pawlowna. Ich möchte Ihnen so viel sagen und habe mir schon hundertmal die Worte zurechtgelegt. Aber jetzt sind sie wie fortgeweht aus meinem Kopf. Nur eines weiß ich noch: Ich habe Sie sehr lieb, und ich träume davon, Sie in die Arme zu nehmen und ganz festzuhalten.«
Während er sprach, hatte er ihr die Hände auf die Schultern gelegt. Nun glitten sie tiefer, umfaßten ihre Taille, und Swetlana fühlte sich an seine Brust gedrückt.
Es war ein gutes Gefühl; sie verspürte Wärme und Zuneigung und die Sehnsucht nach etwas, das sie noch nicht kannte, von dem sie aber ahnte, daß es wunderschön sein würde.
Mehr, dachte sie, ich will mehr ...
Unwillkürlich hob sie den Kopf und öffnete leicht die Lippen. Da küßte er sie und hielt sie noch fester an sich gepreßt. »Swetlana«, murmelte er, »meine Liebste ...«
Ihr Herz klopfte rascher. Es war schön, so geküßt zu werden, und die Zärtlichkeit in Boris’ Stimme überwältigte sie. Sie legte die Arme um seinen Hals und erwiderte seinen Kuß. Und in diesem Augenblick war sie ganz sicher, Boris Petrowitsch Barschewskij zu lieben.
Er kam schon am nächsten Vormittag in das Lasarowsche Palais, um bei ihren Eltern um ihre Hand anzuhalten.
Graf Pawel Lasarow reagierte zunächst ein wenig zögernd. Swetlana sei gerade siebzehn geworden, und überhaupt – sie und Boris kannten sich doch erst wenige Wochen. Ob er denn tatsächlich sicher sei ...
»Vollkommen sicher«, erwiderte Boris Petrowitsch. »So wie Sie, Graf Lasarow, es gewiß auch waren, als Sie Ihre Gattin heirateten.«
Wera Karlowna, die der Unterhaltung bisher schweigend gefolgt war, während sie überlegte, ob man der Bewerbung zustimmen oder noch auf eine bessere Partie für ihre älteste Tochter hoffen konnte, kicherte verschämt. »Das haben Sie reizend gesagt, mein lieber Boris Petrowitsch.«
Ihr Mann warf ihr einen irritierten Blick zu. »Wera, ich bitte Sie ...«
»Aber es ist wahr!« beharrte sie. »Es klingt wirklich hübsch. Die Frage ist nur, ob auch Swetlana ...«
»Ja!« sagte Boris glücklich. »Ich bin mir der Zuneigung von Swetlana Pawlowna gewiß. Wir haben uns gestern ausgesprochen.«
Diesmal wandte er sich mehr an Wera als an ihren Gatten. »Ich bitte Sie von ganzem Herzen, stehen Sie unserem Glück nicht im Weg. Ihre Tochter soll es nie bereuen, mich geheiratet zu haben. Wie Ihnen vielleicht bekannt ist, lebe ich in absolut gesicherten finanziellen Verhältnissen. Ich bin das einzige Kind meiner Eltern und somit auch ihr einziger Erbe. Meine Familie besitzt große Ländereien, Anteile an diversen Bergwerken im Ural, Papierfabriken in Woronesch und Tula, eine Porzellanmanufaktur in Moskau, Webereien in Kasan und Nischnij-Nowgorod und ...«
»Schon gut, schon gut!« unterbrach Graf Lasarow die Aufzählung. »Ihr Herr Vater ist als sehr vermögender Mann bekannt. In diesem Punkt hege ich absolut keine Bedenken. Allerdings fühle ich mich ein wenig überrumpelt, das will ich Ihnen nicht verhehlen. Ich war der Meinung, daß Swetlana erst einen oder zwei Winter in der Petersburger Gesellschaft verbringen sollte, ehe sie sich bindet.«
»Ach, Pawel Konstantinowitsch!« mischte Wera Karlowna sich wieder ein. Sie hatte sich entschieden, Swetlana diesem jungen und so angenehm reichen Mann zu geben. Außerdem war es sicherlich kein Fehler, wenn das Kind rasch in feste Hände kam. Dann war es keine Konkurrenz mehr für Xenia, die, Gott sei’s geklagt, längst nicht so viele Bewunderer hatte wie Swetlana. »Wozu noch warten? Die beiden lieben sich, und wir sollten ihnen unseren Segen geben. Vergessen Sie nicht, ich selbst war gerade achtzehn geworden, als Sie mich heirateten. Und die Hochzeit braucht ja auch in diesem Fall erst im Spätsommer zu sein. Swetlana hat nämlich im August Geburtstag«, wandte sie sich an Boris.
Er kam zu ihr und küßte ihre Hand. »Danke. Tausend Dank für Ihre Zustimmung, Gräfin.«
Er warf einen bittenden Blick zu Lasarow hinüber. »Und Sie? Nicht wahr, Sie sagen doch jetzt ebenfalls ja?«
Lasarow erhob sich aus seinem Ledersessel. »Nun, ich denke, wir sollten erst einmal Swetlana hereinrufen.«
Sie hatte in einem der Salons gewartet und kam sofort, als ihr Vater die Tür zur Bibliothek öffnete und nach ihr rief.
Sie trug ein goldbraunes Morgenkleid mit breiter Schärpe und das Haar mit einer Samtschleife zurückgebunden.
»Was höre ich denn da, mein Kind«, sagte Graf Lasarow mit einer bei ihm ungewohnten Rührung. »Du willst diesen jungen Mann hier heiraten? Hast du dir das auch gut überlegt?«
Sie wurde rot, nickte und lächelte. »Ja, Papa, ich glaube schon.«
»Ach, mein liebes, liebes Kind!« Wera Karlowna brach in Tränen aus. Sie liebte sentimentale Auftritte. Schluchzend zog sie Swetlana an die Brust. »Gott segne dich. Und Sie auch, mein lieber Sohn«, wandte sie sich an Boris, um ihn gleichfalls zu umarmen. »Machen Sie mein Kind glücklich.«
»Das werde ich«, versprach Graf Barschewskij und blickte so strahlend drein, daß Swetlana nicht anders konnte, als ihm beide Hände zu reichen, die er an sein Herz drückte.
Und wieder war sie ganz sicher, ihn zu lieben. Es gab überhaupt nichts, das sich zwischen sie stellen konnte.
Die Verlobung, die nach orthodoxem Ritus fast ebenso bindend wie eine Trauung war, wurde in der Auferstehungskirche vollzogen.
Es war Abend, noch immer herrschte eisige Winterkälte, und der Schnee knirschte unter den Hufen der Pferde, die die Schlitten mit der Verlobungsgesellschaft nach der kirchlichen Zeremonie zum Lasarowschen Palais brachten.
An den Straßenecken brannten große hellodemde Feuer, an denen sich die Passanten wärmen konnten, und die bunten Dächer und Kuppeln der Petersburger Kirchen waren dick verschneit.
Wie es Tradition war, wurden an jenem Abend im Lasarow-Palais auch die Armen gespeist, die sich im Hinterhof des Wirtschaftstraktes eingefunden hatten. In langer Reihe standen sie da, Bettler und Obdachlose, aber auch solche, die krank und elend waren und keine Arbeit hatten.
Es gab Kohlsuppe aus großen Kesseln, mit viel Fleisch darin, Kascha mit dicker Sahne, Brot, Kwass und heißen Tee, und die Diener hatten Anweisung, die mitgebrachten Töpfe der Leute reichlich zu füllen und ihnen nicht zu verwehren, sich auch noch für morgen oder übermorgen Brot und Speck in die Taschen zu stopfen.
Auch hier brannte ein prasselndes Holzfeuer in der Mitte des Hofes, und darum drängten sich viele, wenn sie etwas zu essen ergattert hatten, um die vom Frost erstarrten Glieder zu wärmen.
»Gott segne Seine Gnaden«, sagten die Leute, bevor sie mit ihren vollen Näpfen zum Feuer schlurften, um sich erst einmal gierig satt zu essen. »Er schenke ihm und seiner Familie ein langes Leben.«
»Gott segnet ohnehin nur die Reichen«, erhob sich plötzlich eine scharfe, helle Frauenstimme über das demütige Gemurmel. »Deshalb ist es unnötig, daß ihr ihn noch darum bittet. Fluchen solltet ihr ihm, weil er blind und taub geworden ist für eure Not. Oder ist jemals für euch Brot vom Himmel gefallen, wenn ihr am Verrecken wart, oder aus Wasser Milch geworden, wenn eure Kinder an der Schwindsucht krepierten?«
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