Wasin lächelte.
»Ihr Lob ist doch wohl etwas übertrieben; geschehen ist dort doch weiter nichts, als daß Sie eine etwas zu große Vorliebe für abstrakte Gespräche haben. Sie haben wahrscheinlich vor dem heutigen Tage sehr lange geschwiegen.«
»Ich habe drei Jahre geschwiegen, ich habe mich drei Jahre auf den Moment vorbereitet, wo ich sprechen wollte . . . Als Dummkopf konnte ich Ihnen natürlich nicht erscheinen, weil Sie selbst ungeheuer klug sind, mag ich mich auch so dumm aufgeführt haben wie nur möglich. Aber vielleicht haben Sie mich für einen Schuft gehalten!«
»Schuft?«
»Ja, natürlich! Sagen Sie, verachten Sie mich nicht im stillen, weil ich gesagt habe, daß ich ein unehelicher Sohn von Wersilow bin . . . und weil ich mich gerühmt habe, ich wäre der Sohn eines Leibeigenen?«
»Sie quälen sich selber zu viel. Wenn Sie finden, daß das nicht richtig war, so sagen Sie sich eben: ich tu es das nächste Mal nicht wieder: Sie haben noch fünfzig Jahre vor sich.«
»Oh, ich weiß, daß ich den Leuten gegenüber sehr schweigsam sein muß. Das niedrigste von allen Lastern ist: sich den Leuten an den Hals zu werfen; das habe ich denen da drinnen vorhin erst gesagt, und jetzt werfe ich mich Ihnen an den Hals! Aber da ist doch ein Unterschied, nicht wahr? Und wenn Sie diesen Unterschied verständen, wenn Sie imstande wären, ihn zu verstehen, ich würde diese Minute segnen.«
Wasin lächelte wieder.
»Kommen Sie zu mir, wenn Sie Lust haben«, sagte er. »Ich habe jetzt eine Arbeit vor und bin sehr beschäftigt, aber Sie würden mir eine Freude damit machen.«
»Ich hatte bisher geglaubt, nach Ihrem Gesicht, Sie wären härter als nötig und wenig umgänglich.«
»Das stimmt vielleicht. Ich habe voriges Jahr in Luga Ihre Schwester Lisaweta Makarowna kennengelernt . . . Kraft ist stehengeblieben und scheint auf Sie zu warten; er muß hier abbiegen.«
Ich drückte Wasin kräftig die Hand und lief Kraft nach, der die ganze Zeit, wo ich mich mit Wasin unterhalten hatte, vor uns hergegangen war. Schweigend gingen wir bis zu seiner Wohnung; ich konnte und wollte noch nicht mit ihm sprechen. Und in Krafts Charakter bildete einen der ausgeprägtesten Züge die Feinfühligkeit.
Kraft hatte früher irgendwo eine Anstellung gehabt und war gleichzeitig dem verstorbenen Herrn Andronikow (gegen Gehalt) bei der Führung einiger Privatgeschäfte behilflich gewesen, womit dieser sich immer neben seiner Amtstätigkeit noch befaßt hatte. Wichtig für mich war besonders, daß Kraft, infolge seiner nahen Beziehungen zu Andronikow, vermutlich viel von den Dingen wissen mußte, die mich so interessierten. Und Maria Iwanowna, die Frau von Nikolaj Semionowitsch, bei dem ich so lange gelebt hatte, als ich noch aufs Gymnasium ging – und die leibliche Nichte, die Andronikows Pflegetochter und Liebling war –, diese Maria Iwanowna also hatte mir gesagt, Kraft hätte sogar »den Auftrag«, mir etwas zu übergeben.
Er lebte in einer kleinen Wohnung von zwei Zimmern, vollkommen für sich allein, und jetzt, wo er eben von der Reise zurückgekehrt war, sogar ohne jede Bedienung. Der Koffer war wohl ausgepackt aber nicht weggeräumt; die Sachen trieben sich auf den Stühlen, dem Tisch, vor dem Diwan herum; da lag ein Reisesack, ein Necessaire, ein Revolver und alles mögliche. Als wir eintraten, war Kraft tief in Gedanken versunken, als hätte er mich ganz vergessen; er hatte es vielleicht nicht einmal bemerkt, daß ich mit ihm unterwegs gar nicht gesprochen hatte. Er fing gleich nach irgend etwas zu suchen an, aber als er zufällig am Spiegel vorbeikam, blieb er davor stehen und betrachtete eine gute Minute lang aufmerksam sein Gesicht. Ich bemerkte diese Sonderbarkeit wohl (und später habe ich mich ihrer nur zu gut erinnert), aber ich war verstimmt und sehr verwirrt. Ich hatte nicht die Kraft, mich zu konzentrieren. Einen Augenblick lang hatte ich auf einmal Lust, kurz entschlossen fortzugehen und mich damit von dieser ganzen Geschichte ein für allemal los zu sagen. Ja, und was war diese ganze Geschichte im Grunde? War das nicht nur eine Sorge, die ich ganz überflüssigerweise auf mich genommen hatte? Und ich war verzweifelt, daß ich hier eine Menge Energie verschwendete und wofür? Vielleicht für Kleinigkeiten, die das nicht wert waren, aus lauter Sentimentalität, während ich doch eine eigene Aufgabe vor mir sah, die meine ganze Energie erforderte. Und zu alledem war mir meine Unfähigkeit zu einer ernsten Tat deutlich in die Augen gesprungen, durch das, was bei Dergatschow geschehen war.
»Sagen Sie mal, Kraft, werden Sie künftig noch zu diesen Leuten hingehen?« fragte ich ihn plötzlich. Er wendete sich langsam zu mir, als verstünde er mich nicht recht. Ich setzte mich auf einen Stuhl.
»Verzeihen Sie ihnen!« sagte Kraft auf einmal.
Ich hielt das natürlich für Spott; aber als ich ihn jetzt gründlich musterte, entdeckte ich in seinem Gesicht eine so seltsame und sogar erstaunliche Treuherzigkeit, daß ich selbst ganz erstaunt darüber war, wie er mich so ernsthaft hatte bitten können, ihnen zu »verzeihen«. Er schob einen Stuhl heran und setzte sich neben mich.
»Ich weiß selbst sehr gut, daß ich vielleicht nur ein Ragout aus allen Eitelkeiten bin und weiter nichts,« begann ich, »aber um Verzeihung bitte ich nicht.«
»Dazu liegt für Sie auch gar kein Grund vor«, sagte er leise und ernsthaft. Er sprach die ganze Zeit leise und sehr langsam.
»Und mag ich vor mir selber schuldig sein . . . Ich liebe es, vor mir selber schuldig zu sein . . . Verzeihen Sie, Kraft, daß ich bei Ihnen Redensarten mache. Sagen Sie, gehören Sie denn wirklich auch zu diesem Kreise? Das war es, was ich Sie fragen wollte.«
»Die sind nicht dümmer als andere und nicht klüger; sie sind geistesgestörte Menschen, wie alle.«
»Sind denn alle gestört?« wendete ich mich mit unwillkürlicher Neugier zu ihm.
»Die etwas höherstehenden Menschen heutzutage sind alle gestört. Lustig und stark lebt nur die Mittelmäßigkeit und die Unbegabtheit dahin . . . Übrigens, was verlohnt es, davon zu sprechen!«
Beim Reden schaute er so sonderbar in die leere Luft hinaus, er begann einzelne Sätze und brach wieder ab. Besonders überraschte mich die Mutlosigkeit in seiner Stimme.
»Rechnen Sie denn auch Wasin dazu? Wasin hat Geist, Wasin hat . . . eine moralische Idee!« rief ich.
»Moralische Ideen gibt es heutzutage überhaupt nicht; auf einmal zeigte es sich, das es keine mehr gab und, was die Hauptsache ist, es sieht so aus, als ob es niemals welche gegeben hätte.«
»Auch früher nicht?«
»Lassen wir das lieber«, sagte er, sichtlich ermüdet.
Mich ergriff sein bitterer Ernst. Ich schämte mich meines Egoismus, ich begann, auf seinen Ton einzugehen.
»Die Gegenwart,« fing er selbst wieder an, nachdem er zwei Minuten schweigsam auf einen Punkt in der Luft gestarrt hatte, »die Gegenwart ist die Zeit der goldenen Mittelmäßigkeit und der Ohnmacht, sie gefällt sich in Unbildung, Faulheit, Unfähigkeit zur wahren Tat, sie verlangt gleich alles fertig vor sich zu sehen. Kein Mensch mag gründlich nachdenken; wie selten findet man einen, der sich in ernstem Streben eine Idee aufgerichtet hat.«
Er brach wieder ab und schwieg eine kurze Weile; ich lauschte, was er weiter sagen würde.
»Heutzutage roden sie die Wälder in Rußland aus, erschöpfen den Boden, verwandeln das Land in eine Steppe und bereiten es für die Kalmücken vor. Und da soll einmal ein Mensch mit einer Hoffnung kommen und einen Baum pflanzen – dann lachen ihn alle aus: ›Glaubst du denn, du erlebst die Zeit, wenn er groß ist?‹ Und auf der anderen Seite reden die Leute, die Sehnsucht nach dem Guten haben, davon, was nach tausend Jahren sein wird. Eine mutige Idee gibt es überhaupt nicht mehr. Alle leben sie wie auf der Poststation und als müßten sie morgen hinaus aus Rußland, alle denken sie: wenn's nur noch für mich reicht . . .«
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