»Ich habe nicht aus Patriotismus gesprochen«, sagte Kraft mit einer gewissen Anstrengung. Alle diese Debatten schienen ihm unangenehm zu sein.
»Patriotismus oder nicht, das kann man ruhig beiseite lassen«, sagte Wasin, der bisher das strikteste Schweigen gewahrt hatte.
»Aber inwiefern kann denn Krafts Schluß den Eifer für die Sache der Menschheit lähmen?« schrie der Lehrer (er war der einzige, der schrie, alle andern sprachen leise). »Mag also Rußland zur Zweitklassigkeit verurteilt sein; kann man denn nur arbeiten, wenn es für Rußland ganz allein geschieht? Und außerdem, wie kann Kraft ein Patriot sein, wenn er nicht einmal mehr an Rußland glaubt?«
»Dafür ist er eben ein Deutscher«, ertönte wieder die Stimme von vorhin.
»Ich bin Russe«, sagte Kraft.
»Das ist eine Frage, die durchaus in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit der Sache steht«, bemerkte Dergatschow, gegen den Zwischenrufer gewandt.
»Treten Sie aus der Enge Ihrer Idee heraus«, eiferte Tichomirow, der für alle Unterbrechungen taub war. »Wenn Rußland nur das Material für edlere Volksstämme ist, ja, warum soll es eigentlich nicht als solches Material dienen? Das ist immerhin noch eine recht ansehnliche Aufgabe. Warum soll man sich nicht bei dieser Idee beruhigen, da sie einem seine Grenzen weiter zieht. Die Menschheit steht am Vorabend ihrer Wiedergeburt, und diese hat schon begonnen. Die Aufgabe leugnen, die vor uns liegt, kann nur ein Blinder. Laßt Rußland fahren, wenn ihr den Glauben daran verloren habt, und arbeitet für das zukünftige Volk, – das zukünftige, das heute noch keiner kennt, das sich aber aus der ganzen Menschheit bilden wird, ohne Unterschied der Stämme. So oder so wäre Rußland doch einmal gestorben; kein Volk, und wäre es das begabteste, lebt länger als anderthalb, wenn's hoch kommt zwei Jahrtausende; ist es da nicht ganz gleich, ob's zweitausend Jahre sind, oder zweihundert? Die Römer haben nicht einmal fünfzehnhundert Jahre gelebt, richtig gelebt, und haben sich auch in Material verwandelt. Sie sind schon lange dahin, aber sie haben eine Idee hinterlassen, und die ist als Element des Künftigen in die Geschicke der Menschheit übergegangen. Wie kann ein Mensch nur sagen, es hätte keinen Zweck, etwas zu tun? Ich kann mir überhaupt keine Situation vorstellen, in der es keinen Zweck hätte, etwas zu tun! Handelt für die Menschheit, und über alles andere macht euch keine Sorgen. Zu tun gibt es so viel, daß unsere Lebensdauer nicht ausreicht, wenn man sich nur ordentlich umschaut.«
»Man muß nach dem Gesetz der Natur und der Wahrheit leben«, sagte hinter der Tür Frau Dergatschowa. Die Tür war ein ganz klein bißchen geöffnet, und man konnte sie draußen stehen sehen, das Kind an der Brust, die Brust zugedeckt und mit leidenschaftlichem Interesse lauschend.
Kraft hörte das mit einem leichten Lächeln an und sagte endlich mit einem etwas gequälten Ausdruck, übrigens aber im Ton starker Aufrichtigkeit:
»Ich begreife nicht, wie einer, der unter dem Einfluß irgendeines herrschenden Gedankens steht, dem sein Verstand und sein Gefühl sich völlig unterwerfen, wie so einer noch für irgend etwas leben könnte, was außerhalb dieses Gedankens liegt.«
»Aber wenn man Ihnen logisch, mathematisch nachweist, daß Ihr Schluß falsch ist, daß dieser Gedanke falsch ist, daß Sie nicht das geringste Recht haben, sich von der nützlichen Arbeit der Allgemeinheit auszuschließen, aus keinem anderen Grund, als weil Rußland von der Vorsehung bestimmt ist, zweitklassig zu bleiben, wenn man Ihnen nachweist, daß sich da vor Ihnen an Stelle des engen Horizontes die Unendlichkeit auftut, daß an Stelle der engen Idee des Patriotismus . . .«
»Ach!« sagte Kraft und wehrte leise mit der Hand ab, »ich habe Ihnen doch gesagt, daß der Patriotismus hiermit gar nichts zu schaffen hat.«
»Hier liegt augenscheinlich ein Mißverständnis vor«, mischte sich auf einmal Wasin ein. »Der Fehler liegt darin, daß Krafts Schluß nicht nur ein logischer ist, sondern sozusagen ein Schluß, der sich in ein Gefühl verwandelt hat. Nicht alle Naturen sind gleichgeartet; bei vielen Menschen verwandelt sich manchmal ein logischer Schluß in das allerstärkste Gefühl, das den ganzen Menschen ergreift und sehr schwer auszutreiben oder zu verwandeln ist. Um einen solchen Menschen zu heilen, muß man in solchen Fällen dieses Gefühl ändern, und das kann man nur, indem man es durch ein anderes gleich starkes ersetzt. Das ist stets schwer und in vielen Fällen unmöglich.«
»Falsch!« schrie der Streithammel wieder los, »der logische Schluß zerstreut die Vorurteile schon ganz von selbst. Eine vernünftige Überzeugung gebiert auch ein Gefühl. Der Gedanke geht aus dem Gefühl hervor und formuliert für sein Teil wieder ein neues Gefühl, wenn er im Menschen herrschend wird!«
»Die Menschen sind sehr verschieden: einer ändert seine Gefühle leicht, der andere schwer«, entgegnete Wasin. Es sah so aus, als hätte er genug von dem Streit; ich aber war begeistert von seiner Idee.
»So ist das, wie Sie gesagt haben!« wendete ich mich plötzlich an ihn. Das Eis war gebrochen, und ich fing auf einmal an zu sprechen. »Ganz richtig, man muß an die Stelle des einen Gefühls ein anderes setzen, um es zu überwinden. In Moskau lebte, das ist jetzt vier Jahre her, ein General . . . Sehn Sie, meine Herrschaften, ich hab' ihn nicht gekannt, aber . . . Vielleicht konnte er einem im Grunde persönlich auch keinen besonderen Respekt einflößen . . . Und außerdem könnte einem die Tatsache an sich unverständig scheinen, aber . . . Übrigens, sehn Sie, ihm starb ein Kind, das heißt, eigentlich zwei kleine Mädchen, beide kurz nacheinander, am Scharlach . . . Na, und er war mit einem Schlage so zerschmettert, er grämte sich so, daß man ihn nicht ansehen konnte, wenn er so daherkam – und das Ende war, daß er starb, kaum ein halbes Jahr darauf. Er starb daran, das ist eine Tatsache! Wodurch also, nehmen wir mal an, hätte man ihn aufrichten können? Antwort: Durch ein ebenso starkes Gefühl! Man hätte die zwei kleinen Mädchen aus dem Grabe holen und ihm wiedergeben müssen – das ist die Sache, das heißt, so was Ähnliches. Er ist also daran gestorben. Und da hätte man ihm viele wunderschöne Schlüsse vorlegen können; man hätte ihm erzählen können: alles Leben ist gebrechlich, wir alle sind sterblich, man hätte ihm im Kalender eine Statistik darüber zeigen können, wieviel Kinder am Scharlach sterben . . . Es war ein General außer Diensten . . .«
Ich stockte, außer Atem, und schaute mich um.
»Das hat doch gar nichts damit zu tun«, sagte jemand.
»Die Tatsache, die Sie angeführt haben, deckt sich zwar nicht mit dem vorliegenden Fall, aber sie hat doch Ähnlichkeit mit ihm und kann ihn erläutern«, wendete sich Wasin zu mir.
Hier muß ich bekennen, warum mich Wasins Argument von der »zum Gefühl gewordenen Idee« so begeisterte, aber zugleich muß ich etwas gestehen, dessen ich mich höllisch zu schämen habe. Jawohl, ich hatte Angst gehabt, zu Dergatschow zu gehen, aber nicht aus der Ursache, die Jefim voraussetzte. Ich hatte Angst, weil ich mich schon in Moskau vor solchen Leuten gefürchtet hatte. Ich wußte, daß sie (das heißt, alle Leute von dieser Art, mögen sie auch sonst noch so verschieden untereinander sein, – das ist ganz egal) – daß sie alle Dialektiker sind und daß sie also am Ende »meine Idee« würden zertrümmern können. Ich hegte das festeste Zutrauen zu mir selbst, daß ich ihnen meine Idee nicht ausliefern und mitteilen würde; aber sie (das heißt wieder, alle Leute von dieser Art) könnten mir am Ende aus sich selbst heraus irgend etwas sagen, was mir meine Idee verleiden könnte, selbst wenn ich auch nicht ein Wort von ihr fallen ließe. Ich kannte im Hinblick auf »meine Idee« noch viele ungelöste Fragen, aber ich wollte nicht, daß sie irgend jemand anders löste als ich selbst. In den zwei letzten Jahren hatte ich sogar aufgehört, Bücher zu lesen, aus Furcht, auf irgendeine Stelle zu stoßen, die der »Idee« schaden und mich wankend machen könnte. Und auf einmal kommt Wasin und löst das Exempel und beruhigt mich im höchsten Sinne. In der Tat, wovor hatte ich mich gefürchtet, und was konnten sie mir tun, soviel Dialektik sie auch auftischten? Ich war vielleicht auch der einzige von allen Anwesenden, der verstand, was Wasin da von der »zum Gefühl gewordenen Idee« gesagt hatte. Es ist nicht genug, daß man eine schöne Idee widerlegt, man muß einen Ersatz für sie schaffen durch eine gleich starke schöne Idee; bietet man mir das nicht, so will ich, da ich mich um keinen Preis von meinem Gefühl trennen möchte, jede Widerlegung in meinem Herzen widerlegen, und mag es mit Gewalt sein, und mögen sie sagen, was sie wollen. Und was könnten sie mir denn als Ersatz geben? Und deshalb hätte ich tapferer sein sollen, ich wäre verpflichtet gewesen, mannhafter zu sein. Und während ich von Wasins Worten begeistert war, fühlte ich zugleich Scham und fühlte mich wie ein unwürdiges kleines Kind.
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