»Sie glauben also, sie hat bei Maria Iwanowna nichts gefunden?« fragte ich und hatte meine Gedanken dabei.
»Wenn Maria Iwanowna nicht mal Ihnen was davon gesagt hat, dann hat sie vielleicht überhaupt nichts.«
»Sie nehmen also an, das Dokument befinde sich bei Wersilow?«
»Das ist wohl das Wahrscheinlichste. Übrigens, ich weiß es ja nicht, unmöglich ist gar nichts«, sagte er, sichtlich abgespannt.
Ich fragte ihn nicht weiter aus. Wozu auch? Alles Wichtige war für mich aufgehellt, trotz dieses unwürdigen Wirrwarrs; alles, was ich befürchtet hatte, war mir bestätigt worden.
»Das ist alles wie Traum und Fieberwahn«, sagte ich voll tiefer Traurigkeit und griff nach meinem Hute.
»Dieser Mensch ist Ihnen sehr teuer?« fragte mich Kraft, mit einer sichtlichen und großen Teilnahme, die ich in jener Minute von seinem Gesicht las.
»Ich habe schon so ein Vorgefühl gehabt,« sagte ich, »daß ich selbst von Ihnen nicht das Ganze erfahren würde. Meine letzte Hoffnung ruht auf der Achmakowa. Auf sie habe ich auch gehofft. Vielleicht gehe ich zu ihr, vielleicht auch nicht.«
Kraft musterte mich mit einigem Zweifel im Blick.
»Leben Sie wohl, Kraft! Weshalb laufen Sie Leuten nach, die nichts von Ihnen wissen wollen? Wäre es nicht, besser, mit allem zu brechen – was?«
»Und nachher wohin?« fragte er mit einer gewissen Rauheit und schaute zu Boden.
»Zu sich selber, zu sich selber! Mit allem brechen und zu sich selber kommen!«
»Nach Amerika?«
»Nach Amerika! Zu sich selber, zu sich selber ganz allein! Sehn Sie, darin besteht meine ›Idee‹, Kraft!« sagte ich begeistert.
Er sah mich mit einer Art von Neugier an.
»Und kennen Sie diesen Ort: ›zu sich selber‹?«
»Ja. Auf Wiedersehn, Kraft; ich danke Ihnen und bedaure, daß ich Sie belästigt habe! Ich an Ihrer Stelle würde, wenn ich selber so ein Rußland im Kopfe hätte – ich würde alle zum Teufel schicken: packt euch, intrigiert nur weiter, beißt euch miteinander herum – was schert das mich.«
»Bleiben Sie noch etwas«, sagte er auf einmal, als wir schon an der Tür waren.
Ich war ein bißchen verwundert, ich kehrte um und setzte mich wieder. Kraft setzte sich mir gegenüber. Wir tauschten eine Art von Lächeln – ich sehe das alles noch, als wäre es heute gewesen. Ich weiß noch sehr genau, daß ich ihn in gewisser Weise bewunderte.
»Es gefällt mir so gut an Ihnen, Kraft, daß Sie so ein liebenswürdiger Mensch sind«, sagte ich auf einmal.
»So?«
»Namentlich, weil ich selbst es so selten verstehe liebenswürdig zu sein, wenn ich es auch verstehen möchte . . . Ach was, vielleicht ist es auch besser, wenn die Menschen einen vor den Kopf stoßen: wenigstens befreien sie einen damit von dem Unglück, sie lieben zu müssen.«
»Welche Stunde des Tages lieben Sie am meisten?« fragte er, er hatte sichtlich gar nicht gehört, was ich gesagt hatte.
»Welche Stunde? Ich weiß nicht. Den Sonnenuntergang liebe ich nicht.«
»So?« sagte er mit einem ganz besonderen Interesse und verfiel gleich wieder in Gedanken.
»Sie wollen wieder verreisen?«
»Ja . . . ich verreise.«
»Bald?«
»Ja.«
»Brauchen Sie denn wirklich zu einer Reise nach Wilna einen Revolver?« fragte ich, ganz ohne den geringsten Hintergedanken und sogar überhaupt, ohne irgend etwas dabei zu denken. Ich fragte nur so, weil der Revolver blitzte, und ich nicht recht wußte, wovon ich reden sollte.
Er wendete sich um und sah den Revolver mit einem langen, festen Blick an.
»Nein, das tu ich nur so, aus Gewohnheit.«
»Wenn ich einen Revolver besäße, ich würde ihn irgendwo unter Schloß und Riegel bringen. Wissen Sie, so ein Ding hat, bei Gott, etwas Verführerisches! Ich glaube vielleicht gar nicht an Selbstmordepidemien, aber wenn man so ein Ding immer vor Augen hat – wahrhaftig, es gibt Minuten, wo es einen verführen könnte.«
»Sprechen Sie nicht davon«, sagte er und stand plötzlich auf.
»Ich spreche nicht von mir,« sagte ich, mich gleichfalls erhebend, »ich würde so etwas nie tun. Geben Sie mir meinetwegen drei Menschenleben, – auch das würde mir noch nicht genug sein.«
»Leben Sie lange«, riß es sich gleichsam aus ihm los.
Er lächelte zerstreut und ging, seltsam, einfach ins Vorzimmer, mich damit gewissermaßen hinauskomplimentierend, natürlich ohne Bewußtsein von dem, was er tat.
»Ich wünsche Ihnen Gelingen in jeder Hinsicht, Kraft«, sagte ich, als ich schon auf der Treppe war.
»Hoffentlich«, erwiderte er mit Festigkeit.
»Auf Wiedersehen!«
»Hoffentlich auch das.«
Ich denke noch an den letzten Blick, mit dem er mich ansah.
So, das war also der Mensch, um den so viele Jahre mein Herz geklopft hatte! Und was hatte ich denn eigentlich von Kraft erwartet, welche neuen Aufklärungen?
Als ich von Kraft kam, verspürte ich ein starkes Hungergefühl; es wurde schon Abend und ich hatte noch nicht zu Mittag gegessen. Ich ging, gleich dort auf der Petersburger Seite, auf dem großen Prospekt, in ein kleines Wirtshaus, mit der Absicht, zwanzig oder höchstens fünfundzwanzig Kopeken auszugeben – mehr hätte ich mir damals um keinen Preis erlaubt. Ich bestellte mir eine Suppe, und dann, weiß ich noch, als ich sie gegessen hatte, setzte ich mich ans Fenster und sah hinaus; in der Stube waren viel Leute, es roch nach verbranntem Fett, Wirtshausservietten und Tabakrauch. Es war eklig. Zu meinen Häupten klopfte eine stimmlose Nachtigall mit dem Schnabel auf den Boden ihres Käfigs, verdrossen und traurig. Im benachbarten Billardzimmer wurde gelärmt, aber ich saß und dachte tief nach. Die Stunde des Sonnenunterganges (weshalb hatte Kraft sich nur gewundert, daß ich diese Tageszeit nicht liebe?) rief in mir gewisse neue und unerwartete Empfindungen hervor, die durchaus nicht hergehörten. Vor mir schimmerte die ganze Zeit der stille Blick meiner Mutter, ihre lieben Augen, die mich jetzt schon einen ganzen Monat so schüchtern ansahen. In der letzten Zeit war ich zu Hause sehr grob und unliebenswürdig gewesen, besonders gegen sie; ich wollte eigentlich gegen Wersilow grob sein, traute mich aber nach meiner elenden Manier nicht, und so quälte ich denn sie. Ich hatte sie sogar ganz verängstigt; sie sah mich oft mit einem so furchtsam flehenden Blick an, wenn Wersilow ins Zimmer trat, weil sie irgendeinen Ausbruch von mir befürchtete . . . Sehr wunderlich war es, daß es mir hier, im Wirtshaus, zum erstenmal zum Bewußtsein kam, daß Wersilow » du « zu mir sagte, während sie mich »Sie« nannte. Gewundert hatte ich mich schon früher darüber und nicht in einer Art, die für sie schmeichelhaft gewesen wäre, aber jetzt kam es mir so ganz besonders zu Bewußtsein – und allerhand seltsame Gedanken flossen, einer nach dem andern, durch meinen Kopf. Ich blieb lange auf dem Platze sitzen, bis die Dämmerung tief hereingebrochen war. Auch an meine Schwester dachte ich . . .
Eine schicksalschwangere Minute für mich. Mochte kommen, was da wollte, ich mußte einen Entschluß fassen! Ich war doch nicht unfähig, einen Entschluß zu fassen? Was war denn so Schweres daran, mit allem zu brechen, wenn man hier noch dazu selber nichts von mir wissen wollte? Meine Mutter und meine Schwester? Aber sie wollte ich ja doch auf keinen Fall verlassen, – wie sich die Sache auch wenden mochte.
Die Wahrheit ist: das Auftreten dieses Menschen in meinem Leben, das heißt, sein damaliges Auftreten für einen Augenblick nur, in meiner ersten Kindheit, war der fatale Punkt, an dem mein Bewußtsein anfing. Wäre er mir damals nicht in den Weg getreten, – mein Verstand, mein Gedankenvorrat, mein Schicksal wären heute anders, abgesehen nur von meinem mir vom Geschick vorausbestimmten Charakter, dem ich wohl auch dann nicht entronnen wäre.
Читать дальше