Ich erzitterte nur so. Erstens bezeichnete er Wersilow als meinen Vater , – was er sich mir gegenüber noch nie erlaubt hatte, und zweitens fing er von Wersilow zu sprechen an, was noch nie passiert war.
»Er sitzt ohne Geld da und fängt Grillen«, antwortete ich kurz, dabei brannte ich aber selbst vor Neugierde.
»Ja, das Geld! Heute wird ihre Sache vor dem Bezirksgericht entschieden, und ich erwarte Fürst Seriosha; was er wohl für eine Nachricht bringen wird? Er hat mir versprochen, direkt vom Gericht zu mir zu kommen. Da hängt nun ihr ganzes Schicksal dran; es sind sechzig- oder achtzigtausend Rubel. Selbstverständlich habe ich auch Andrej Petrowitsch (das heißt, Wersilow) immer alles Gute gewünscht, und er wird ja wohl auch gewinnen, und die Fürsten haben das Nachsehen. Gesetz ist Gesetz.«
»Heute auf dem Gericht?« rief ich erstaunt.
Der Gedanke, daß Wersilow es selbst hier nicht für nötig gehalten hatte, mir etwas zu sagen, setzte mich äußerst in Erstaunen. »Also hat er es auch wohl der Mutter nicht gesagt, und vielleicht keinem Menschen?« malte ich mir sofort aus. »Was für ein Charakter!«
»Aber ist denn Fürst Sokolskij in Petersburg?« Dieser zweite Gedanke durchzuckte mich plötzlich.
»Seit gestern. Direkt aus Berlin, extra wegen heute.«
Auch das war eine für mich sehr wichtige Nachricht. »Und er kommt heute hierher, dieser Mensch, der ihn geohrfeigt hat!«
»Na, sag' mal,« sagte der Fürst mit plötzlich verwandeltem Ausdruck, »spielt er noch immer den Propheten Gottes, wie damals, und, und . . . du erlaubst schon, ist er noch immer hinter den Mädeln her, den Mädeln, die noch nicht flügge sind? He, he! da wird auch jetzt wieder eine äußerst lustige Anekdote kolportiert . . . Hehe!«
»Prophet? Wer? Wer ist hinter den Mädeln her?«
»Andrej Petrowitsch! Wirst du's mir glauben? Damals hat er uns allen zugesetzt: was wir essen, woran wir denken! – Das heißt, beinahe so. Er machte uns Vorwürfe und predigte uns Buße: ›Wenn du religiös bist, warum gehst du nicht ins Kloster?‹ Er verlangte das beinah von einem. Mais quelle idée! Und mag es auch richtig sein, es ist doch wohl etwas gar zu streng? Und gerade mir drohte er mit Vorliebe mit dem Jüngsten Gericht, mir am allermeisten.«
»Ich habe nichts dergleichen bemerkt, und ich bin doch schon einen Monat mit ihm zusammen«, erwiderte ich, während ich voll Ungeduld horchte. – Ich ärgerte mich fürchterlich, daß er sich nicht zusammennahm und so ohne Faden daherredete.
»Jetzt sagt er das bloß nicht, aber du kannst mir glauben, so war es. Er ist unstreitig ein sehr gescheiter Mensch, und sehr unterrichtet; aber ist dieser Verstand so recht in Ordnung? Das kam alles, nachdem er die drei Jahre im Ausland gewesen war. Ich muß gestehen, er hat mich sehr erschüttert . . . und alle Welt hat er erschüttert . . . Cher enfant, j'aime le bon Dieu . . . Ich bin gläubig, gläubig, so gut ich kann, – aber damals kam ich tatsächlich ganz aus dem Häuschen. Es mag ja sein, daß meine Art etwas leichtfertig war, aber das hab' ich absichtlich getan, im Ärger, – und zudem war das Wesen meiner Entgegnung ebenso ernsthaft, wie es vom Beginn der Welt gewesen ist: ›Wenn es ein höheres Wesen gibt,‹ sag' ich zu ihm, ›wenn es eins gibt, und es existiert persönlich, und nicht in Gestalt eines Geistes, der über die ganze Schöpfung gegossen ist, wie eine Flüssigkeit etwa (weil dies noch schwerer zu begreifen ist), – wo wohnt Er denn?‹ Lieber Freund, c'était bête, zweifellos, aber schließlich laufen doch alle Entgegnungen in der Sache hierauf heraus. Un domicile – das ist eine wichtige Sache. Er wurde furchtbar böse. Er ist da unten auch zum Katholizismus übergetreten.«
»Von dieser Geschichte habe ich auch schon gehört. Ich bin überzeugt, das ist alles Blödsinn.«
»Ich versichere es dir bei allem, was mir heilig ist. Schau ihn nur richtig an . . . Übrigens sagst du ja, er hätte sich geändert. Na, damals hat er uns alle gepeinigt! Glaube mir, er benahm sich, als ob er ein Heiliger wäre und seine Knochen Reliquien. Er verlangte von uns Rechenschaft über unsern Lebenswandel, ich schwör' es dir! Reliquien! En voilà une autre! Ja, wenn's ein Mönch oder ein Einsiedler gewesen wäre, – aber da läuft einer im Frack herum . . . und auf einmal will er aus Reliquien zusammengesetzt sein! Eine sonderbare Idee für einen Mann von Welt, und, ich muß gestehen, ein sonderbarer Geschmack. Ich will gar nichts dagegen sagen, das sind alles heilige Sachen, und schließlich kann alles vorkommen . . . Außerdem ist das alles de l'inconnu, aber für einen Mann von Welt ist es geradezu unpassend. Wenn mir so etwas passierte, oder wenn man mir das vorschlüge, ich würde mich einfach weigern. Also, ich speise heute im Klub, und auf einmal bin ich – eine Reliquie? Ich mach' mich ja lächerlich! Das hab' ich ihm damals alles auseinandergesetzt . . . Er trug sogar Büßerketten auf dem Leibe.«
Ich wurde vor Zorn feuerrot im Gesicht.
»Haben Sie die selbst gesehen?«
»Ich selbst nicht, aber . . .«
»So kann ich Ihnen nur sagen, daß das alles Lügen sind, ein Gewebe von widerwärtigen Ränken und Verleumdungen seiner Feinde, das heißt, eines Feindes, des unmenschlichen Hauptfeindes, denn er hat nur einen Feind: und das ist Ihre Tochter.«
Jetzt war die Reihe aufzubrausen am Fürsten.
»Mon cher, ich bitte dich, und zwar aufs dringlichste, in Zukunft mir gegenüber nie wieder den Namen meiner Tochter in Verbindung mit dieser ekelhaften Geschichte in den Mund zu nehmen.«
Ich sprang auf. Er war außer sich; sein Kinn zitterte.
»Cette histoire infâme! . . .« fing er wieder an, »ich habe sie nicht geglaubt, ich hab' sie nicht glauben wollen, aber . . . man sagt mir: glaub' es, glaub' es, ich . . .«
Da kam auf einmal der Diener und meldete Besuch; ich setzte mich wieder.
Zwei Damen traten ein, beides junge Mädchen, die eine war eine Stieftochter eines Vetters der verstorbenen Frau des Fürsten, oder so was Ähnliches, eine seiner Pflegetöchter, der er ihre Mitgift schon herausbezahlt hatte und die (ich bemerke das für späterhin) auch selbst nicht mittellos war; die zweite war Anna Andrejewna Wersilowa, Wersilows Tochter, drei Jahre älter als ich; sie lebte mit ihrem Bruder bei der Fanariotowa, und ich hatte sie bisher in meinem Leben nur ein einziges Mal gesehen, ganz flüchtig auf der Straße, obschon ich mit ihrem Bruder, allerdings auch ganz flüchtig, schon in Moskau eine Affäre gehabt hatte (es ist sehr möglich, daß ich späterhin etwas von dieser Affäre erwähne, wenn ich Raum dafür habe, denn eigentlich ist es der Mühe nicht wert). Diese Anna Andrejewna war in ihren Kinderjahren eine besondere Favoritin des Fürsten gewesen (Wersilows Bekanntschaft mit dem Fürsten datierte schon ungeheuer weit zurück). Ich war noch so verwirrt von dem, was soeben geschehen war, daß ich bei ihrem Eintritt nicht einmal aufstand, obgleich der Fürst sich erhob und ihnen entgegenging; nachher dachte ich mir, jetzt wäre es schon genierlich, aufzustehen, und blieb sitzen. Der Hauptgrund war, daß ich mich so vor den Kopf gestoßen fühlte, weil der Fürst mich vor drei Minuten so angeschrien hatte, und noch nicht wußte, ob ich fortgehen sollte oder nicht. Aber der alte Herr hatte schon alles absolut vergessen, wie es so seine Mode war, und hatte sich ganz freudig belebt, als er die beiden jungen Mädchen sah. Er hatte sogar, mit schnell verwandeltem Ausdruck und einem gewissen geheimen Blinzeln, Zeit gefunden, mir direkt vor ihrem Eintritt hastig zuzuwispern:
»Schau dir die Olympia an, schau sie dir ganz genau an, ganz genau . . . ich erzähl' dir nachher, warum . . .«
Ich sah sie mir recht genau an und fand nichts Besonderes: es war ein junges Mädchen von mittlerer Größe, dicklich und mit außerordentlich roten Backen. Ihr Gesicht war übrigens ziemlich angenehm, von der Sorte, wie sie den Materialisten gefällt. Es lag vielleicht ein Zug von Güte darin, aber dies mit einer gewissen Einschränkung. Durch besondere Intelligenz glänzte es nicht, aber nur, wenn man das Wort im höheren Sinn anwendet, denn die Schlauheit las man ihr in den Augen. Sie war höchstens neunzehn. Mit einem Wort, nichts irgendwie Bemerkenswertes. Bei uns im Gymnasium hätte man sein Urteil dahin zusammengefaßt: ein gutes Kissen. (Wenn ich so sehr in die Details eingehe, so geschieht das nur, weil ich das für später nötig habe.)
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