»Nein, es hat mich niemand mit Gewalt dazu gezwungen,« versetzte Nikolai Wsewolodowitsch, über Schatows eilige, hitzige Frage lächelnd.
»Und was redet sie denn von ihrem Kinde?« fragte Schatow in fieberhafter Hast und zusammenhangslos.
»Sie redet von einem Kinde? Oh! Das wußte ich nicht; das höre ich zum erstenmal. Sie hat kein Kind gehabt und konnte keines haben: Marja Timofejewna ist Jungfrau.«
»Ah! Habe ich es doch gedacht! Hören Sie!«
»Was ist Ihnen, Schatow?«
Schatow verbarg das Gesicht in den Händen und wandte sich um; aber plötzlich faßte er Stawrogin kräftig an den Schultern.
»Wissen Sie wenigstens, wissen Sie wenigstens,« schrie er, »weswegen Sie das alles angerichtet haben, und weswegen Sie sich jetzt zu einer solchen Buße entschließen?«
»Ihre Frage ist verständig und kränkend; aber ich beabsichtige, Sie ebenfalls in Verwunderung zu versetzen: ja, ich weiß beinahe, weswegen ich mich damals verheiratet habe und weswegen ich mich jetzt zu einer solchen ›Buße‹, wie Sie sich ausdrücken, entschließe.«
»Lassen wir das jetzt ... davon später; warten Sie noch mit Ihrer Mitteilung; reden wir von der Hauptsache, von der Hauptsache: ich habe zwei Jahre auf Sie gewartet.«
»Ja?«
»Ich habe sehr lange auf Sie gewartet; ich habe unaufhörlich an Sie gedacht. Sie sind der einzige Mensch, der imstande wäre ... Ich habe schon aus Amerika darüber an Sie geschrieben.«
»Ich erinnere mich sehr gut Ihres langen Briefes.«
»War er zu lang zum Durchlesen? Ich gebe es zu; es waren sechs Briefbogen. Schweigen Sie, schweigen Sie! Sagen Sie: können Sie mir noch zehn Minuten schenken, aber jetzt, sofort? ... Ich habe sehr lange auf Sie gewartet!«
»Bitte, ich gewähre Ihnen eine halbe Stunde, aber nicht mehr, wenn Ihnen das möglich ist.«
»Aber unter der Bedingung,« fiel Schatow wütend ein, »daß Sie Ihren Ton ändern. Hören Sie, ich fordere es, während ich darum bitten müßte ... Verstehen Sie, was das bedeutet: fordern, während man bitten müßte?«
»Ich verstehe es, daß Sie sich auf diese Weise über alles Gewöhnliche hinwegsetzen, um höhere Ziele zu erreichen,« erwiderte Nikolai Wsewolodowitsch ein wenig lächelnd. »Ich sehe auch zu meinem Leidwesen, daß Sie fiebern.«
»Ich bitte um Achtung vor mir; ich verlange sie!« schrie Schatow. »Nicht vor meiner Person (die mag der Teufel holen!), sondern vor etwas anderem, nur für diese Zeit, für einige Worte ... Wir sind hier zwei Wesen und begegnen uns in der Unendlichkeit ... zum letztenmal auf der Welt. Legen Sie Ihren Ton ab, und nehmen Sie einen menschlichen an! Reden Sie wenigstens einmal in Ihrem Leben mit menschlicher Stimme! Ich sage das nicht um meinetwillen, sondern um Ihretwillen. Begreifen Sie auch wohl, daß Sie mir diesen Schlag ins Gesicht schon allein deswegen verzeihen müssen, weil ich Ihnen dadurch Gelegenheit gegeben habe, Ihre grenzenlose Kraft zu erkennen? ... Sie lächeln wieder in Ihrer süffisanten, weltmännischen Weise. Oh, wann werden Sie mich verstehen! Weg mit dem junkerhaften Benehmen! Verstehen Sie doch, daß ich das fordere; sonst werde ich nicht reden, um keinen Preis!«
Seine Wut ging fast bis zu fieberhaftem Irrereden; Nikolai Wsewolodowitsch machte ein finsteres Gesicht und schien vorsichtiger zu werden.
»Wenn ich noch auf eine halbe Stunde hiergeblieben bin,« sagte er ernst und nachdrücklich, »obwohl meine Zeit kostbar ist, so seien Sie überzeugt, daß ich Sie wenigstens mit Interesse anzuhören beabsichtige, und ... und daß ich von Ihnen viel Neues zu hören erwarte.«
Er setzte sich auf einen Stuhl.
»Setzen Sie sich!« schrie Schatow und setzte sich plötzlich selbst hin.
»Gestatten Sie mir aber daran zu erinnern,« bemerkte Stawrogin noch einmal, »daß ich Ihnen eine Bitte in betreff Marja Timofejewnas aussprechen wollte, eine Bitte, die wenigstens für diese von großer Wichtigkeit ist ...«
»Nun?« fragte Schatow finster; er sah aus wie jemand, der an der wichtigsten Stelle unterbrochen worden ist, und der, obgleich er den andern anblickt, die Frage desselben doch noch nicht verstanden hat.
»Und daß Sie mich nicht haben zu Ende reden lassen,« schloß Nikolai Wsewolodowitsch lächelnd.
»Ach was, Unsinn, nachher!« winkte Schatow geringschätzig ab, nachdem er endlich das Verlangen seines Gegenübers begriffen hatte, und ging geradeswegs auf sein Hauptthema los.
»Wissen Sie wohl,« begann er fast drohend mit funkelnden Augen, indem er sich auf seinem Stuhle nach vorn beugte und den Zeigefinger der rechten Hand vor sich in die Höhe hob« (offenbar, ohne es selbst zu bemerken), »wissen Sie wohl, welches Volk jetzt auf der ganzen Welt der einzige ›Träger des wahren Gottesglaubens‹ ist, welches Volk dasjenige ist, das im Namen des neuen Gottes die Welt erneuern und erlösen wird, und dem allein die Quellen des Lebens und des neuen Wortes gegeben sind? ... Wissen Sie wohl, welches Volk das ist, und wie sein Name lautet?«
»Aus Ihrem Gebaren muß ich wohl mit Notwendigkeit und aufs schnellste schließen, das dies das russische Volk ist ...«
»Und Sie lachen schon! O diese Menschensorte!« fuhr Schatow auf ihn los.
»Beruhigen Sie sich, ich bitte Sie; ich habe im Gegenteil gerade etwas Derartiges erwartet.«
»Sie haben Derartiges erwartet? Und Ihnen selbst ist dieser Satz nicht bekannt?«
»Er ist mir sehr wohl bekannt; ich sehe ganz genau voraus, worauf Sie hinauswollen. Der ganze Gedanke, den Sie da aussprechen, und sogar der Ausdruck ›Träger des wahren Gottesglaubens‹ ist nur der Schluß eines Gespräches, das wir beide vor mehr als zwei Jahren im Auslande führten, nicht lange vor Ihrer Abreise nach Amerika ... Wenigstens soweit ich mich jetzt erinnern kann.«
»Das ist ganz und gar Ihr Gedanke und nicht der meinige. Ihr eigener Gedanke, und nicht etwa nur der Schluß unseres Gespräches. Ein ›von uns beiden geführtes‹ Gespräch hat überhaupt nicht stattgefunden: es war ein Lehrer da, der gewaltige Worte verkündete, und es war ein Schüler da, der in geistigem Sinne von den Toten auferstand. Ich war jener Schüler und Sie der Lehrer.«
»Aber wenn ich mich recht erinnere, so traten Sie gerade nach meinen Worten in jenen Bund ein und fuhren erst dann nach Amerika.«
»Ja, und ich habe Ihnen darüber aus Amerika geschrieben; ich habe Ihnen über all das geschrieben. Ja, ich konnte mich nicht blutend von allem losreißen, womit ich seit meiner Kindheit verwachsen war, von allem, worauf ich voll Entzücken gehofft und worüber ich voll Haß geweint hatte. Es fällt dem Menschen schwer, seine Götter zu wechseln. Ich glaubte Ihnen damals nicht, weil ich Ihnen nicht glauben wollte, und klammerte mich zum letztenmal an diese Mistgrube ... Aber der Same blieb und wuchs. Im Ernst, sagen Sie im Ernst, haben Sie meinen Brief aus Amerika nicht durchgelesen? Vielleicht haben Sie ihn überhaupt nicht gelesen?«
»Ich habe davon drei Seiten gelesen, die beiden ersten und die letzte, und habe außerdem die Mitte flüchtig überblickt. Übrigens hatte ich immer vor ...«
»Ach, es ist ja ganz gleichgültig; weg damit; zum Teufel!« wehrte Schatow ab. »Wenn Sie jetzt von Ihren damaligen Ansichten über dieses Volk zurückgetreten sind, wie konnten Sie sie dann damals so energisch aussprechen? Das ist es, was mich jetzt niederdrückt.«
»Ich habe auch damals nicht mit Ihnen gescherzt; wenn ich Sie zu überzeugen suchte, so mühte ich mich dabei mit mir selbst vielleicht noch mehr ab als mit Ihnen,« antwortete Stawrogin rätselhaft.
»Sie haben nicht gescherzt! In Amerika habe ich drei Monate neben einem Unglücklichen auf Stroh gelegen und von ihm erfahren, daß Sie zu derselben Zeit, wo Sie mir Gott und das Vaterland ins Herz pflanzten, daß Sie zu derselben Zeit, ja vielleicht in denselben Tagen das Herz dieses Unglücklichen, dieser Drahtpuppe, dieses Kirillow vergiftet haben. Sie haben ihn in der Unwahrheit und Lüge bestärkt und seinen Verstand zur Raserei gebracht ... Gehen Sie hin, und sehen Sie ihn sich jetzt an; er ist Ihr Werk ... Übrigens haben Sie ihn ja gesehen.«
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