Altgriechische Seelenlehre (Orphiker, 6. Jahrhundert v. Chr. ) | Box 1.4
• Zu einem Körper gehört nur eine Seele (die Seele kann den Körper kurzzeitig verlassen: Schlaf, Ekstase).
• Eine Seele kann nacheinander verschiedenen Körpern angehören – Seelenwanderung.
• Die Seele existiert nach dem Tode (des Körpers) weiter – Unsterblichkeit.
• Seelen können auch ohne Körper leben (z.B. auf der „Insel der Seligen“).
Rohde, E. (1898/1980; zit. aus Schönpflug, 2000, 52)
griech. „mythos“: Erzählung
In fast allen Schriften der frühen Hochkulturen (z.B. Ägypten, China, Indien) finden sich Gedanken, die auf Erklärungen der Welt, der Natur und des Menschen hinauslaufen. Offenbar bestand beim Menschen immer schon das Bedürfnis, über das Hier und Jetzt hinaus zu spekulieren. Erklärungsversuche lieferten die Mythen - und Religionen der jeweiligen Epochen. In den meisten Mythen finden sich Vorstellungen über die Entstehung von Göttern („Theogenese“), des Weltalls („Kosmogenese“) und des Menschen („Anthropogenese“), wohl um die Gegenwart besser interpretierbar und die Zukunft besser vorhersagbar zu machen (Schönpflug, 2000, 43; s. auch Hergovich, 2005).
Die Anthropomorphisierung bezeichnet eine Weltsicht, bei der hinter Naturereignissen Götter, Dämonen oder Geister mit menschlichen Eigenschaften vermutet werden.
Insbesondere die sogenannte Anthropomorphisierung der Welt dürfte Ängste reduziert und eine subjektive Handlungssicherheit geschaffen haben. Die Möglichkeit, sich in Götter, Geister oder auch Dämonen einzufühlen und mit ihnen auf diese Weise irgendwie zu kommunizieren, bot offenbar subjektive Chancen, ihre Unterstützung zu erflehen oder sie zu besänftigen.
Bekanntlich ist Religiosität auch eine Hilfe bei der Bewältigung der menschlichen Urangst vor dem Tod als unvermeidliches Endstadium des Daseins. Hier beruhigt der Glaube an eine unsterbliche Seele, die nach dem Ableben des Körpers in einer anderen Welt („Jenseits“) oder in einem anderen Körper („Seelenwanderung“) weiterexistiert.
Angesichts der permanenten Erfahrungen von Ungerechtigkeit im Leben tröstet wohl auch die Hoffnung auf eine ausgleichende Gerechtigkeit in einer anderen Welt (Ägypten: „Totengericht“; Judentum, Islam und Christentum: „Paradies“; indische Religionen: „Nirwana“) und motiviert zu sozialen („guten“) Handlungen. Daneben fördern religiöse Praktiken Sozialkontakte, Gruppenbildung und Gemeinschaftsgefühl und dienen so den sozialen Bedürfnissen des Menschen. Dass andererseits Religion und Glaube oft auch Unrecht schufen und zur Sicherung von Macht missbraucht wurden, liegt im Wesen aller Ideologien und Glaubensinhalte.
Eine der wichtigsten psychologischen Wurzeln der Religionsausübung war jedenfalls sicher die Wahrnehmung von Hilflosigkeit und Angst angesichts der Schwierigkeit, die naturgesetzlichen Zusammenhänge im Kosmos, in der Natur und im eigenen Leben zu durchschauen, sie vorherzusagen und zu kontrollieren. Hier schafft der Glaube an ein allwissendes und allmächtiges Wesen Sicherheit.
Ein weiteres menschliches Bedürfnis ist jenes nach Lebenssinn. Ein Bündnis mit einem göttlichen Wesen („Theismus“), oder zumindest eine ideelle Verbundenheit mit einem allgemeinen höchsten Prinzip („Deismus“), kann dem oftmals als armselig empfundenen Dasein eine höhere Bedeutung und Zielsetzung verleihen.
Öfter, als man üblicherweise bedenkt, stehen auch innersubjektive Erfahrungen mit der sogenannten objektiven Realität in Widerspruch: Träume, Wahrnehmungsillusionen, Fantasien, Fieberdelirien, Rauschzustände, Halluzinationen, aggressive oder ängstliche Stimmungen dürften bereits dem Frühmenschen als Hinweise dafür gegolten haben, dass seelische Vorgänge gegenüber der materiellen Welt eine gewisse Autonomie aufweisen. Deshalb die „Ideenwelt“ als eigenständige, mit der „Sinneswelt“ manchmal konkurrierende Form der Existenz zu begreifen, lag also durchaus nahe.
Ein eher spekulativer Ansatz in dieser Richtung zur Erklärung des frühen Gottesglaubens stammt von Julian Jaynes, einem Psychologen der Universität Princeton. In seinem 1976 publizierten Werk „The Origin of Consciousness in the Breakdown of the Bicameral Mind“ vertritt er die Meinung, dass der Mensch bis in die Zeit um 1000 v. Chr. noch kein reflexives (selbsteinsichtiges) Bewusstsein wie heute besaß, sondern nur eine sogenannte „bikamerale Psyche“ („bicameral mind“; Box 1.5).
„Bicameral Mind“ | Box 1.5
Julian Jaynes (Psychologieprofessor in Princeton) stellte aufgrund antiker Texte aus der Zeit von 3000- bis etwa 700 v. Chr. (Sumer, Babylon, Ägypten, Mayakultur, ...) die Hypothese auf, dass die damaligen Menschen noch kaum über ein introspektives (sich selbst wahrnehmendes) Bewusstsein verfügt hätten, sondern nur über eine „bikamerale“ Psyche.
Darunter versteht Jaynes (1976/1993) eine relativ unabhängige Arbeitsweise beider Gehirnhälften, bei der die rechte Hälfte akustische oder visuelle Halluzinationen in die linke Gehirnhälfte projiziert, welche als „Stimmen“ oder „Erleuchtungen“ von Göttern interpretiert worden sein könnten. Jaynes bezeichnet solche halluzinierten „Götterstimmen“ als neurologische Imperative, welche vielleicht erzieherische oder sittliche Anweisungen (soziale Kontrolle!) zum Ausdruck brachten.
Der Glaube an Gott oder Götter könnte schließlich sogar die evolutionäre Entwicklung der menschlichen Art mitbestimmt haben. Der Soziobiologe Edward O. Wilson (1980) fragt etwa in seinem Buch „Biologie als Schicksal – Die soziobiologischen Grundlagen menschlichen Verhaltens“, ob nicht „Religion eine List der Gene“ sei. Religiöse Einstellungen erbrächten Überlebensvorteile für die Menschheit, indem eine Festigung der persönlichen Identität erreicht, altruistisches Verhalten gefördert und individuelle Opferbereitschaft zugunsten der Gemeinschaft gestützt wird. Wilson meint daher: „Der menschliche Geist hat sich so entwickelt, dass er an Götter glaubt, nicht an Biologie“ (Wilson, 2000, 348; s. auch Dawkins, 2006).
1.3 | |
Philosophie als Vorläuferin der Psychologie |
Im frühen Griechenland galten Politik und Ökonomie als Lehrgebiete zur Erlangung eines „guten Lebens“, in Verbindung mit vielen praktischen Regeln für das „Haus“ (griech. „oikos“) und für die „Stadt“ (griech. „polis“). Der Naturphilosoph Thales von Milet (625– 547 v. Chr.) kann als erster Philosoph im Sinne der abendländischen Denktradition gelten, da er Naturphänomene nicht mehr mythisch, sondern rational zu erklären versuchte (z.B. Vorhersage der Sonnenfinsternis im Jahre 585 v. Chr.). Er war einer der „Sieben Weisen“, die auch Regeln für eine vernünftige Lebensführung und für die Einschätzung sozialer Situationen entwickelten.
Eine gute Lebensführung wurde in der Antike oft mit seelischer Gesundheit in Verbindung gebracht, wie etwa bei den Pythagoräern, die in klosterähnlichen Gemeinschaften in Süditalien lebten und gemäß der „orphischen Lehre“ den (minderwertigen) Körper als Gefängnis der (höherwertigen) Seele betrachteten. Der Seele wurde potenziell die Teilhabe an einer höheren ideellen, nicht an die aktuelle Lebenswelt gebundenen Wirklichkeit zugeschrieben – vorausgesetzt, sie gelangt zu Ordnung und Harmonie. Um dies zu erreichen, glaubte man im Wesentlichen an vier Bildungswege: 1. Beschäftigung mit Mathematik und Astronomie („Theorie“), 2. Befassung mit Kunst und Musik, 3. Askese (Mäßigkeit im Triebleben) und 4. die Pflege von Freundschaften (gemeinsame Verantwortung, Gemeinschaftseigentum). Je nach Qualität der Lebensführung im Sinne der angegebenen Regeln sollte der Mensch in unterschiedlichem Ausmaß Zugang zum Göttlichen und zur absoluten Harmonie erreichen, mit der Chance auf eine (hochwertige) Wiedergeburt (Capelle, 1953, zit. nach Schönpflug, 2000).
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