b) Die „Marburger Richtlinien“ als Antwort auf Erkenntnisprobleme
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Die vom Gesetz verlangte „Gesamtwürdigung der Persönlichkeit des Täters“ stellt den Jugendrichter und ggf auch den forensischen Psychogutachter vor große Probleme. Es ist unübersehbar, dass hier ein Einfallstor für unterschiedliche Wertungen und Anschauungen der Gutachter und Richter liegt, was ungleiche Rechtsanwendungbegünstigt. Deshalb wurden bereits im Jahre 1954 auf Veranlassung der DVJJ von Jugendpsychiatern und -psychologen sowie Jugendrechtlern die sog. „Marburger Richtlinien“ vorgelegt[22], die teils auch heute noch als grundsätzlich aussagekräftig anerkannt sind[23].
Die Marburger Richtlinien: Es wird „ein Heranwachsender einem Jugendlichenoft in seiner sittlichen und geistigen Entwicklung dann gleichzustellensein, wenn seine Persönlichkeit insbesondere folgende Züge vermissen lässt:
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eine gewisse Lebensplanung, |
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Fähigkeit zu selbstständigem Urteilen und Entscheiden, |
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Fähigkeit zu zeitlich überschauendem Denken, |
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Fähigkeit, Gefühlsurteile rational zu unterbauen, |
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ernsthafte Einstellung zur Arbeit, |
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gewisse Eigenständigkeit zu anderen Menschen usw. |
Charakteristische jugendtümliche Zügekönnen ua sein:
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ungenügende Ausformung der Persönlichkeit, |
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Hilflosigkeit (die sich nicht selten hinter Trotz und Arroganz versteckt), |
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naiv-vertrauensseliges Verhalten, |
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Leben dem Augenblick, |
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starke Anlehnungsbedürftigkeit, |
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spielerische Einstellung zur Arbeit, |
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Neigung zum Tagträumen, |
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Hang zu abenteuerlichem Handeln, |
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Hineinleben in selbstwerterhöhende Rollen, |
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mangelhafter Anschluss an Altersgenossen usw. |
Zur Sicherung des diagnostischen Ergebnissesist zusätzlich die Überlegung anzuraten, ob der Heranwachsende noch mit den Maßnahmen des Jugendgerichtsgesetzes, die auf die Formbarkeit des Jugendlichen abgestellt sind, zu fördern ist oder nicht“[24]. – Diese abschließende Überlegung, zum Zwecke der Absicherung auch darauf zu achten, „welche Rechtsordnung die für diesen Täter am besten geeignete Maßnahme enthält“[25], erscheint pragmatisch sinnvoll, kann jedoch nur als Kontroll- und nicht als eigentliches Entscheidungskriterium dienen, da sie von der gesetzlich vorgeschriebenen Tatzeitorientierung wegführt[26].
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Eine neuere empirische Überprüfung[27] hat mittels Abgleich anhand eines unter Psychologen akzeptierten „Konzepts der Entwicklungsaufgaben“ belegt, dass die teils antiquiert anmutenden Kriterien der „Marburger Richtlinien“ mit dem moderneren Ansatz gut zur Deckung zu bringen sind. In dieser Studie von Esser , Fritz und Schmidt wurden folgende Reifekriterienzugrundegelegt:
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realistische Lebensplanung, |
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Eigenständigkeit gegenüber den Eltern, |
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Eigenständigkeit gegenüber Peers und Partner, |
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ernsthafte (vs. spielerische) Einstellung gegenüber Arbeit und Schule, |
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äußerer Eindruck, |
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realistische Alltagsbewältigung, |
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gleichaltrige oder ältere (vs. überwiegend junge) Freunde, |
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Bindungsfähigkeit, |
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Integration von Eros und Sexus, |
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konsistente berechenbare Stimmungslage. |
Es zeigte sich im Übrigen, dass geistige und sittliche Entwicklung nur recht schwach korrelieren und dass beste Prädiktorenfür (psychologisch beurteilte) mangelnde Reife etwaige psychische Störungen (im Alter von 13 Jahren) und chronische Belastungen im Jugendalter (13- bis 18-Jährige) sind[28].
Der neueste Ansatz, die Bonner Delphi-Studie, bezog ihre Befunde aus Experteninterviews[29]. Auf diesem Wege wurden zehn Skalen gebildet, die für die Abgrenzung im Rahmen einer Reifebegutachtung als tauglich erscheinen[30]:
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Soziale Autonomie und Autonomie in der Lebensführung, |
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Beziehungen und Partnerschaft, |
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Qualifikation und Ziele, |
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Werte und Normen, |
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Emotionalität und Impulsivität, |
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Problem- und Konfliktmanagement, |
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Kommunikation und Reflexivität, |
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Familiäre und soziale Umweltbedingungen (einschl. Normorientierung dort), |
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Umstände der Tat, |
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Beweggründe der Tat. |
c) Einzelfragen der Reifebeurteilung in der Praxis
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Der BGH hat ua folgende Konstellationenfür die Bejahung von § 105 I Nr 1 JGG für erheblich gehalten: – Der Angeklagte hatte „früh das Elternhaus verlassen, ein aussteigerähnliches Leben geführt und sehr bald mit dem Drogenkonsum begonnen“[31]. – Der Angeklagte befand sich „nach seiner Einreise nach Deutschland in einer Situation weitgehender sozialer Entwurzelung“[32]. – Versagen im schulischen, beruflichen und sozialen Bereich mit nachfolgend angepasstem und zukunftsorientiertem Verhalten im Strafvollzug als Zeichen einer noch bestehenden Formbarkeit des in Krisensituationen jedoch labilen, nämlich nach der Entlassung wieder in Kriminalität abgeglittenen, Heranwachsenden[33].
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In Fällen, in denen der Heranwachsende noch einem Jugendlichen gleichsteht, gleichwohl aber seine Persönlichkeitsentwicklung bereits abgeschlossenist, bejaht die Rechtsprechung die Anwendung von Erwachsenenstrafrecht[34]. Voraussetzung für diese Verneinung von § 105 I Nr 1 JGG ist die Prognose, dass der Heranwachsende über die bereits erreichte Entwicklungsstufe nicht hinaus gelangen werde, was das „noch“ im Gesetzestext aber für die Anwendung von Jugendstrafrecht voraussetze[35]. Es seien die Rechtsfolgen des Jugendstrafrechts auf den unfertigen, noch formbaren Menschen zugeschnitten. In diesem Sinne hatte der BGH bei einem Heranwachsenden, der wegen leichten Schwachsinns und Willensschwäche die erreichte Entwicklungsstufe laut Sachverständigengutachten nicht überschreiten werde, Erwachsenenstrafrecht angewendet[36]. In einer neueren Entscheidung[37] bestätigt der BGH diese Linie:
Fall 2:
Ein schon als Jugendlicher vielfach auffällig gewordener Heranwachsender tötete einen ihm völlig unbekannten Passanten mit mehreren Messerstichen. Der Täter wollte sich nach einem Streit mit dem Vater seiner damaligen Freundin abreagieren und irgendein Menschenleben vernichten. – Zur Frage der Anwendung von Jugendstrafrecht führte der BGHaus:
„Ergibt die Diagnose, dass die Entwicklung des Täters in der Kindheit früh gehemmt worden ist und bereits schwere Schäden, etwa in Form frühkindlicher Deprivationssyndrome vorliegen, kann dies im Ausnahmefall zu schweren Persönlichkeitsstörungen mit erheblich eingeschränkter Ich-Kontrolle führen (…). In diesen Fällen kann das Vorliegen unbehebbarer Entwicklungsrückstände – dem Fall des Schwachsinns nicht unähnlich – erwogen werden“, was zur Anwendung von Erwachsenenstrafrecht führen würde[38].
In der Literatur erheben sich gegen diese Rechtsprechung berechtigte Bedenken. Zum einen ist die Prognose eines Ausbleibens weiterer Persönlichkeitsentwicklung kaum in hinreichend sicherer Form zu treffen[39]. Zum anderen belegt die Tatzeitorientierung des § 105 I Nr 1 JGG, dass es bei dieser Entscheidung auch um die Berücksichtigung einer infolge Unreife gemilderten Schuld geht[40]; freilich zeigt die Rechtsprechung in Fällen einer Psychopathie bzw dissozialen (antisozialen) Persönlichkeitsstörung seit jeher wenig Neigung, diese – etwa im Rahmen von § 21 StGB – strafmildernd zu berücksichtigen[41].
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