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Die Geltendmachung solcher Ansprüche erweckt im Alltag häufig den Eindruck, als solle in Freiheitsrechte und in die Interessen anderer Personen an ungehinderter (auch, aber nicht allein: wirtschaftlicher) Nutzung ihrer Sachen eingegriffen werden. Besonders im nachbarlichen Raum ist eine Kollision verschiedener Nutzungen, von denen keine ohne Weiteres den Vorrang beanspruchen kann, manchmal fast unvermeidlich.
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Das zeigen die einleitend zusammengestellten Fälle, wobei hervorzuheben ist, dass nicht selten auch öffentlich-rechtliche Aspekte, zB die Tatsache einer für eine Anlage (wie die Fabrik in Fall 5) erteilten Genehmigung, eine Rolle spielen. Die grundsätzliche Gleichrangigkeit der Nutzungen zeigt sich in Fall 4in den Entscheidungen der Grundstückseigentümer über den Anbau von Pflanzen, wobei fraglich ist, ob die Verwendung von Herbiziden verboten ist, während D als der Nutzer des höher gelegenen Grundstücks auch fragen wird, ob er – obwohl er für solche Regenfälle nicht verantwortlich ist – verpflichtet ist, auf die besonderen Empfindlichkeiten, die B durch seine eigene Anbauentscheidung hervorgerufen habe, Rücksicht zu nehmen.
Auch im Fall 6wird N gegen eine Inanspruchnahme einwenden, das Wachsen der Wurzeln der auf seinem Grundstück seit langem heranwachsenden Pappeln sei ein natürlicher, von ihm nicht zu beeinflussender Vorgang, und für die ungewöhnliche Nutzung seines Grundstücks mit einer Tennisanlage müsse T doch selbst einstehen.
Im Fall 5schließlich würde es dem F sicher am liebsten sein, wenn er den weiteren Betrieb des Steinbruchs ganz untersagen oder wenigstens verlangen könnte, dass E oder später N Vorrichtungen anbringt, die den Staub vor Überschreiten der Grundstücksgrenze abfangen. Hinsichtlich des richtigen Anspruchsschuldners wird weiter zu überlegen sein, ob E, auch wenn er von der unberechtigten Nutzung seines Grundstücks durch N nichts wusste, dennoch als Eigentümer des Grundstücks, von dem die Beeinträchtigungen ausgingen, verantwortlich gemacht werden kann.
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Es zeigt sich, dass in diesen Fällen häufig – fast regelmäßig – eine Abwägung zwischen privaten Interessen und Bedürfnissen von Eigentümern und Besitzern stattfinden muss, in die nicht selten auch Belange des Gemeinwohlseinfließen, so etwa, wenn im Fall 4die Herstellung von Lackleder für die Nachbarn dauernde Geruchsbelästigungen auslöst, F aber darauf hinweist, bei der Errichtung seines Betriebs seien alle erforderlichen behördlichen Genehmigungen erteilt worden, die Gemeinde habe auch ein vordringliches Interesse daran, in diesem als „Mischgebiet“ betrachteten Bereich mittelständische Betriebe mit stadtnahen Arbeitsplätzen einzurichten. Weiter ist zu bedenken, dass häufig nachbarrechtliche Fragen etwa bezüglich der einzuhaltenden Grenzabstände für Gebäude und Pflanzen, so auch für die zulässige Höhe von Bäumen auf Grundstücken in Wohngebieten, durch landesrechtliche Vorschriften geregelt sind, wobei sich dann die Frage stellt, wie sich diese zu den nachbarrechtlichen Bestimmungen des BGB verhalten[31].
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Bei gesetzlichen Regeln über die Nutzung von Grund und Boden werden zunehmend auch wirkliche oder vermeintliche Notwendigkeiten des Umweltschutzesin den Vordergrund gestellt, etwa in Bezug auf die Lagerung von Industrieabfällen, den Bau von Infrastrukturanlagen, auch durch einen verstärkten Natur- und Artenschutz. Nachdem trotz einer europäischen Richtlinie zur Umwelthaftung und zur Vermeidung und Sanierung von Umweltschäden der Entwurf eines Umweltgesetzbuchs nicht zum Erlass eines Gesetzes geführt hat[32], werden wichtige vom Postulat des Umweltschutzes beeinflusste Fragen nach wie vor im privaten Nachbarrecht zu entscheiden sein, verbunden mit den öffentlich-rechtlichen Sonderregeln, wobei dann auch der Gesichtspunkt der Haftung für Umweltschäden betont wird[33], der sich vor allem in einer verschärften Haftung nach Maßgabe des UmwHG[34] niederschlägt. Nicht durchgesetzt hat sich bis heute aber die Vorstellung, es gebe ein subjektives Recht einzelner Personen an bestimmten Umweltwerten wie sauberes Wasser, reine Luft oder ungestörten Naturgenuss „als sonstiges Recht“ iSd § 823 Abs. 1[35]. Wichtige Entwicklungen dieser Art betreffen die sog. sachenrechtlichen Nebengebiete, etwa Agrarrecht, Forst-, Jagd- und Fischereirecht sowie Wasserrecht[36].
2. Die Ansprüche aus § 1004 im zivilrechtlichen Anspruchssystem
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Die Ansprüche aus § 1004 müssen in Abgrenzung zum Schutz gegen die Entziehung und Vorenthaltung des Besitzes (§§ 985, 861) und zum Schadensersatzanspruch wegen einer rechtswidrigen und schuldhaften Verletzung des Eigentums gesehen werden. Wie dies geschieht, hängt weitgehend vom Verständnis dessen ab, was unter einer „Beeinträchtigung“zu verstehen ist, was dann gleichzeitig das Verständnis der Begriffe „Einwirkung“ und „Beeinträchtigung“ in § 906 bestimmt. Nach bisher hM gehört hierher jede von außen kommende und im Zeitpunkt der Benachteiligung des Eigentümers fortdauernde Einwirkung auf die Sache; das kann allerdings auch mittelbar durch menschliche Einwirkung auf die Sache geschehen, von der die beeinträchtigende Wirkung ausgeht[37]. Das ist klar, wenn durch den Betrieb eines Unternehmens eine für die Nachbarn nicht zu duldende Beeinträchtigung ihrer Grundstücke, zB durch LKW-Verkehr[38], stattfindet. Die Beeinträchtigung kann aus dem Handeln eines anderen (des Tätigkeitsstörers) oder aus der Aufrechterhaltung eines andere störenden Zustandes herrühren (Zustands- oder Untätigkeitsstörer). Die große Breite des Anwendungsfelds dieses Begriffs macht es notwendig, hinsichtlich der Art der Abwehr durch den Eigentümer etwas zu differenzieren. Das betrifft besonders auch die Abwehr fortdauernder und bevorstehender Beschädigungen, Nutzungsbehinderungen oder gar Zerstörung der Sache; möglich ist danach aber auch, dass Beeinträchtigungen, die aus früherer Zeit stammen, aber lange nicht spürbar waren, doch eine gegenwärtige Störung verursachen können, die sich aus einem veränderten Umweltbewusstsein ergeben kann, so zB bei chemischen Bodenverunreinigungen, die von einem (auch früher) industriell (besonders auch für militärische Zwecke) genutzten Nachbargrundstück aus in die Erde gelangt waren[39]. Während hier schon die öffentlich-rechtlichen Anforderungen (landesrechtlicher Vorschriften) an den Eigentümer, notfalls auf eigene Kosten die „Kontamination“ zu beseitigen, die Beeinträchtigung deutlich machen, werden hierher auch ziemlich triviale Störungen gerechnet, etwa das Einwerfen unerwünschten Werbematerials in den Briefkasten[40]. Andererseits spielt § 1004 eine große Rolle als Grundlage für das Recht zur Abwehr bzw – auf der anderen Seite – zur Ermöglichung der Durchleitung von elektrischen Einheiten durch ein fremdes Kabelnetz[41].
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Im Vordergrund scheinen danach private (auch schädigende) Eingriffe in Sachen und andere absolut geschützte Rechte des Menschen zu stehen, so dass für die Frage der Unzulässigkeit oder des Bestehens von Duldungspflichten die Anschauungen normal empfindender Durchschnittspersonen maßgeblich sind[42]. Umstritten ist aber, ob der Anspruch aus § 1004 wie die Ansprüche wegen Besitzentziehung (§§ 985, 861) auch die Beseitigungder Folgeneines einmaligen rechtswidrigen Übergriffs erfasst oder nur die Herstellung eines rechtswidrigen Zustandes durch Handlungen oder durch die Verantwortlichkeit für Zustände, die sich als andauernde Usurpation von Eigentümerbefugnissen darstellt[43]. Aus der letzteren Sichtweise folgt dann, dass ein Anspruch aus § 1004 nur so lange erhoben werden kann, als die den rechtswidrigen Zustand begründende Einwirkung noch andauert. Die Unterscheidung hat durchaus praktische Konsequenzen, indem nach der zuletzt genannten – neueren – Lehre nicht nach einem in der Vergangenheit liegenden haftungsbegründenden Akt, sondern danach gefragt wird, ob gegenwärtig ein dem Inhalt des Rechts zuwiderlaufender, das Recht beeinträchtigender Zustand gegeben ist. Deutlich wird dies, wenn die hM mit dem negatorischen Anspruch auch Vorgängen begegnen will, bei denen die Beeinträchtigung von Gegenständen ausgeht, die mittlerweile wesentlicher Bestandteil des durch sie zunächst beeinträchtigenden Grundstücks geworden sind, so ein auf fremdem Gelände errichtetes Gebäude[44]. Dagegen wird eingewendet, dass in solchen Fällen durch den Beseitigungsanspruch aus § 1004 ohne das für einen Schadensersatzanspruch nach § 823 erforderliche Verschulden praktisch eine reine Kausalhaftung begründet werde[45]; die Frage bleibt aber namentlich mit Blick auf die erwähnten Kontaminationen, ob diese Konsequenz bei Nutzungskonflikten unter den Verhältnissen räumlicher Enge und intensiver Nutzung nicht doch zweckmäßig ist.
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