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Sabino Cassese , Dr. iur., Dr. h. c. mult., Professor für die „Geschichte und Theorie des Staates“ an der Scuola Normale Superiore in Pisa und Richter am italienischen Verfassungsgerichtshof; |
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Michel Fromont , Dr. iur., Dr. h. c. mult., Professor emeritus, Université Paris I Panthéon-Sorbonne; |
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Eduardo García de Enterría , Dr. iur., Dr. h. c. mult., Catedrático jubilado de Derecho administrativo, Universidad Complutense de Madrid; |
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Luc Heuschling , Dr. iur., Professeur agrégé de droit public, Faculté des sciences juridiques, politiques et sociales, Université de Lille II; |
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Peter Michael Huber , Dr. iur., Professor, Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Staatsphilosophie, Ludwig-Maximilians-Universität München; Innenminister des Landes Thüringen; |
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Herbert Küpper , Dr. iur., Privatdozent, Honorarprofessor der Andrássy Gyula Deutschsprachigen Universität Budapest; Geschäftsführer des Instituts für Ostrecht München; |
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Mats Kumlien , Dr. iur., Professor für Rechtsgeschichte, Juridiska fakulteten, Uppsala Universitet; |
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Martin Loughlin , LL.M., Professor of Public Law, Dean des Law Department, London School of Economics & Political Science; |
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Bernardo Giorgio Mattarella , Dr. iur., LL.M., Professor für Verwaltungsrecht, Facoltà di giurisprudenza, Università di Siena, Scuola superiore della pubblica amministrazione; |
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Jean-Louis Mestre , Dr. iur., Professor, Institut Louis Favoreu, Faculté de droit et de science politique, Université Paul Cézanne Aix-Marseille III, Aix-en-Provence; |
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Kjell Åke Modéer , Dr. iur., Dr. h. c. mult., Professor emeritus für Rechtsgeschichte, ehemaliger Inhaber der von den Torsten und Ragnar Söderberg Stiftungen gestifteten Professur zum Gedächtnis Samuel Pufendorfs, Juridiska fakulteten, Lund Universitet; |
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Benjamin Schindler , Dr. iur., MJur, Professor für öffentliches Recht an der Universität St. Gallen; |
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Ewald Wiederin , Dr. iur., Professor, Institut für Staats- und Verwaltungsrecht, Universität Wien; |
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Andrzej Wróbel , Dr. iur., Professor, Instytut Nauk Prawnych, Polskiej Akademii Nauk in Warschau; Richter am Obersten Gerichtshof Polens. |
Einführung
Einführung› § 41 Die Entfaltung des Verwaltungsstaates in Europa
Sabino Cassese
§ 41 Die Entfaltung des Verwaltungsstaates in Europa
I. Gemeinsame Grundlagen1 – 7
II. Zwei Modelle von Staatlichkeit in Europa8 – 18
III. Zur Herkunft der beiden Modelle19 – 21
IV. Gemeinsame Entwicklungen: Eine Sache der Interpretation22 – 25
V. Die Nachzügler26 – 32
VI. Vereinheitlichungstrends33 – 38
VII. Die Charakteristika der traditionellen Gestalt der Verwaltung und des Verwaltungsrechts39 – 51
VIII. Kontinuität und Wandel52 – 68
Bibliographie
Einführung› § 41 Die Entfaltung des Verwaltungsstaates in Europa› I. Gemeinsame Grundlagen
Der Beitrag wurde aus dem Englischen übersetzt von Cornelia Glinz und Dr. Diana Zacharias.
1
Die Entstehung des Verwaltungsrechts, das einen Bereich reguliert, in dem weder die Politik vollständig herrscht noch vollständige bürgerschaftliche Gleichordnung besteht, ist eine vergleichsweise junge Erscheinung. Auch wenn sich die Verwaltungssysteme und das Verwaltungsrecht bereits seit der Renaissance herausgebildet haben, so wird die Schwelle zu den modernen administrativen Phänomenen erst im 19. Jahrhundert überschritten. Maßgeblich dafür ist zum einen die Trennung der gerichtlichen Funktionen von der vollziehenden Gewalt. Zum anderen entwickeln sich sowohl die Verwaltungssysteme als auch das Verwaltungsrecht erst in dem spezifischen Kontext des Nationalstaates, und zwar in „staatenlosen Ländern“ wie England[1] ebenso wie in „etatistischen Ländern“ wie Frankreich oder aber in Ländern mit einer geringen Ausprägung von Staatlichkeit, etwa Italien[2] und Polen.[3] Wesentliche Kraft hinter der Entwicklung von Verwaltungssystemen und Verwaltungsrecht ist stets die Regierung, die eine nationale politische Einheit herstellen wollte, die wir „Staat“ nennen. Somit bilden sich öffentliche Verwaltungen als Teil einer nationalen Gemeinschaft und zugleich in struktureller Abhängigkeit von deren Regierungen aus. Im Lichte des Grundsatzes der Gesetzesbindung wurden diese Verwaltungen zunehmend einer rechtlichen Regelung unterworfen. Dieses Verwaltungsrecht war im Wesentlichen staatliches Recht. Für lange Zeit galten öffentliche Verwaltungen ausschließlich als staatliche Phänomene, da es eine Verwaltung mit einem exekutiven Gewaltmonopol nur innerhalb eines Staates geben und sich nur hier die Dialektik von Autorität und Freiheit, die das Verwaltungsrecht kennzeichnet, entfalten konnte.
2
Diese exklusive Verbindung zwischen Staat und Verwaltung fand international eine überaus erfolgreiche Deutung durch den amerikanischen Politikwissenschaftler Dwight Waldo in seinem 1948 publizierten Buch „The Administrative State“.[4] Wo es einen Staat gibt, gibt es eine Verwaltung, und umgekehrt. Da aber die Verwaltungssysteme und das jeweilige Verwaltungsrecht nach den Bedürfnissen der Staaten ausgestaltet wurden und diese Staaten sich entlang divergierender Linien entwickelten, unterscheiden sich auch deren Verwaltungen. Die öffentlichen Verwaltungen wurden so zum Ausdruck des jeweiligen nationalen, bisweilen nationalistischen Entwicklungspfads. Jede Verwaltung wird, da Teil der Geschichte einer partikularen Gesellschaft, bisweilen als einzigartig angesehen. Vergleiche erscheinen danach nutzlos, denn sie würden zur Gegenüberstellung disparater Institutionen und Rechtssysteme führen, die nicht zu einer „Familie“ gehören und denen es deshalb an Gemeinsamkeiten und Verbindungen mangelt. Aus dieser Perspektive betrachtet steht das Verwaltungsrecht in einem schroffen Gegensatz zum Privatrecht, das zumeist als Ausdruck eines gemeinsamen kulturellen Erbes begriffen wird. Auch wenn die nationalen Ausprägungen des Privatrechts gewisse Besonderheiten und Variationen aufweisen, so gibt es doch bedeutsame Gemeinsamkeiten und universelle Institute (wie Familie, Eigentum und Vertrag), in deren Licht Unterschiede erkannt und eingeordnet werden können.[5] Gegen dieses Verständnis ist allerdings anzuführen, dass trotz des Fehlens einer dem Privatrecht vergleichbaren gemeinsamen administrativen Tradition die Verwaltungssysteme und die verschiedenen nationalen Verwaltungsrechte in Europa ein gemeinsames Substrat aufweisen. Dieses Substrat kann durch eine Betrachtung der Geschichte der Institutionen, des Rechts, das sie regelt, und der Rechtskulturen, in die sie eingebettet sind, aufgedeckt werden.
3
Wie von einem prominenten Historiker in einer Abhandlung über den Staat der Renaissance aufgezeigt, „befinden wir uns“ im 16. Jahrhundert „nicht in Gegenwart eines staatlichen Nationalismus, sondern einer […] Art ‚kosmopolitischer‘ Öffnung […]. Wenn im Leben des Staates im 16. Jahrhunderts Gefühle eine Rolle spielen, dann sind es religiöse und weniger nationale oder patriotische“.[6] Der Staat stützt seine Fundamente „auf das Gefühl der Treue gegenüber dem König“.[7] Erst in späteren Zeiten sollte ein nationaler Patriotismus in den Vordergrund treten, der eine engere Verbindung zwischen Nation und Staat etablierte sowie die Unterschiede zwischen den partikularen territorialen Erfahrungen hervorhob.
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