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Die dritte Phase lässt sich als Renaissance der Grundrechteumschreiben. Aufgrund der unionsrechtlich angestoßenen Deregulierung kam es zunächst zu „neuen“ Berufen (vgl zum Telekommunikationsrecht Rn 20, 546) und gleichzeitig zu neuen Anwendungsfeldern für das nationale Verfassungsrecht im Zusammenhang mit der Ausgestaltung unionaler Gestaltungsspielräume (vgl zB zur Vereinbarkeit der Versteigerung von Funkfrequenzen mit Art. 12 GG Rn 562). Allerdings hat das Unionsrecht, nicht nur vor dem Hintergrund der Finanzkrise, seinen Regelungsansatz verändert. Überall da wo das Sekundärrecht nicht mehr Märkte liberalisiert und damit die Grundfreiheiten konkretisiert, sondern die wirtschaftliche Betätigung mit ordnungsrechtlichen Maßstäben gestaltet, stellt sich die Frage nach dem „höherrangigen“ Recht, das auch die Grenzen des unionalen Gesetzgebers markiert. Dazu gehören neben den Grundfreiheiten die Grundrechte. Spätestens mit dem Inkrafttreten der GRCh dominieren aber auch insoweit die unionalen Maßstäbe. Allerdings fungieren Grundfreiheiten und (europäische und nationale) Grundrechte in den meisten Fällen als Auslegungsmaßstab, damit wird gerade das öffentliche Wirtschaftsrecht zum „konkretisierten“ Primär- und Verfassungsrecht.
Seit langem gilt dies insbes für die Berufsfreiheit. Liegen die tatbestandlichen Voraussetzungen einer Vorschrift, die die Berufstätigkeit erlaubnispflichtig macht, vor, folgt aus Art. 12 GG ein Anspruch auf Genehmigungserteilung. Ferner sind die Tatbestandsmerkmale berufsbeschränkender Vorschriften im Lichte dieser Grundrechte auszulegen. So ist nach der Rechtsprechung das Prinzip der Verhältnismäßigkeit ein Element des gewerberechtlichen Unzuverlässigkeitsbegriffs (dazu Rn 251 ff), der unter Beachtung des Grundrechts der Berufsfreiheit auszulegen ist[17]. Entsprechendes gilt zB beim Einschreiten gegen (formell) illegal betriebenes Gewerbe (s. Rn 318). Soweit die nationalen Grundrechte verdrängt werden, lassen sich diese Ansätze auf das Unionsrecht übertragen. Die Union verfügt mittlerweile über einen auch in seiner Durchsetzung vorbildlichen Grundrechtsschutz. Auch die GRCh garantiert, durchaus orientiert an der Konzeption des Grundgesetzes, Berufsfreiheit (Art. 15 GRCh)[18], unternehmerische Freiheit (Art. 16 GRCh)[19] und das Eigentum (Art. 17 GRCh). Diese Gewährleistungen treten jedoch hinter den Grundfreiheiten als Ausdruck der „besonderen Berufsfreiheit“ der Marktbürger zurück[20], sodass sie im öffentlichen Wirtschaftsrecht kaum eine Rolle spielen. Gleichwohl übernehmen die Grundrechte, vor allem das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 7 GRCh) und das Grundrecht auf Datenschutz (Art. 8 GRCh) und sowie insbes das europäische Gebot effektiven Rechtsschutzes[21] zunehmend die lückenschließende Funktion, die traditionell dem nationalen Verfassungsrecht zukommt. Eindrucksvoll etabliert sich der EuGH als „Grundrechtsgericht“[22], das europäische Grundrechtsstandards nicht nur international, sondern gerade auch im Verhältnis zum Sekundärrecht durchsetzt. In der Konsequenz europäischer Grundrechte nimmt aber auch die Bedeutung der Garantie des effektiven Rechtsschutzes aus Art. 47 GRCh zu, der der EuGH in jüngeren Entscheidungen ebenfalls weitreichende, teilweise über Art. 19 Abs. 4 GG hinausreichende Anforderungen entnimmt[23], die nicht nur das Gerichtsverfahren betreffen, sondern zB auch einen Anspruch auf Entscheidung durch unabhängige Gerichte gewähren[24], bis hin zu einem Anspruch auf wirksame Vollstreckungsmöglichkeiten[25]. Dies hat aber auch für den indirekten Vollzug eine weitere Hochzonung der „verfassungsrechtlichen“ Maßstäbe auf die unionale Ebene zur Folge und stellt damit zugleich die Frage nach der Bedeutung nationaler Verfassungsgerichte neu. Das BVerfG hat diese Herausforderung in der aktuellen, geradezu „revolutionären“ Rechtsprechung des 1. Senats aufgenommen (dazu Rn 42 ff).
2. Europäische Grundfreiheiten und nationale Grundrechte im Verfassungsverbund
a) Vorrang des Unionsrechts und unmittelbare Anwendbarkeit
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Unionsrecht und nationales Recht bilden zwei miteinander verbundene Rechtskreise. Das Verhältnis zwischen beiden wird grundsätzlich durch das Unionsrecht bestimmt, denn nur so lässt sich ein einheitlicher Vollzug des Unionsrechts durch die Mitgliedstaaten sicherstellen. Aufgrund des Vorrangs des Unionsrechts[26] geht es im Kollisionsfall entgegenstehenden nationalen Normen vor, sofern es unmittelbar anwendbar ist. Der Anwendungsvorrangdes Unionsrechts führt nicht zur Nichtigkeit nationaler Bestimmungen (im Sinne eines Geltungsvorrangs), sondern zwingt (lediglich) dazu, sie insoweit nicht anzuwenden, als der Konflikt mit Unionsrecht besteht. Die aus dem Vorrang abgeleitete Nichtanwendungspflicht[27] trifft Gerichte wie Verwaltungsbehörden. Die unmittelbare Anwendbarkeitsetzt voraus, dass die Norm rechtlich vollkommen und unbedingt ist, dh keines weiteren mitgliedstaatlichen Vollzugsakts bedarf. Bei den Grundfreiheiten ist die unmittelbare Wirkung immer gegeben[28], ebenso bei den Grundrechten der GRCh. Zu problematisieren ist sie bei den grundsätzlich nur staatengerichteten Richtlinien. Hier ist die unmittelbare Anwendbarkeit nur ausnahmsweise, bei nicht fristgemäßer bzw unzulänglicher Umsetzung gegeben (s. unten Rn 99).
Für den Einzelnen bedeutet dies, dass er sich gegenüber nationalen Stellen und vor Gericht auf die Bestimmungen des Unionsrechts berufen kann, sie ihm also subjektive Rechtegewähren[29]. Dies folgt für die Grundfreiheiten aus dem Verständnis der Grundfreiheiten als Eingriffsabwehrrechte(s. dazu unten Rn 50) und bedarf in der Fallbearbeitung keiner ausführlichen Begründung. Für die Grundfreiheiten hat sich der EuGH bereits 1963 ausdrücklich zum subjektivrechtlichen Ansatz bekannt. Obwohl sie sich vordergründig nur mit dem Zollrecht beschäftigte, markierte die Entscheidung van Gend & Loos [30] nicht nur eine Abkehr vom klassisch-völkerrechtlichen Verständnis des Gemeinschaftsrechts, sondern damit unmittelbar zusammenhängend die Entwicklung einer unionalen Konzeption des subjektiven öffentlichen Rechts. Bei den europäischen Grundrechten der GRChergibt sich ihre Rechtsverbindlichkeit aus Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 EUV und ihr Anwendungsbereich aus Art. 51 GRCh. Unproblematisch besteht sie bei europäischen Verordnungen.
b) Der Anwendungsvorrang und seine (verfassungsrechtlichen) Grenzen
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Dieser Vorrang des Unionsrechts auch vor dem nationalen Verfassungsrecht findet seine verfassungsrechtliche Anerkennung und zugleich Grenze in der Ermächtigung zur Übertragung von Hoheitsrechten auf die Union nach Art. 23 GG[31]. Seit der Solange II-Entscheidung[32] ist geklärt, dass Akte der Europäischen Union selbst nicht an den deutschen Grundrechten gemessen werden bzw jedenfalls das BVerfG seine entsprechende Prüfungskompetenz nicht ausübt. Diese Beschränkung „schlägt durch“ auf die Umsetzung durch den Gesetzgeber, aber auch die Prüfungsmaßstäbe für Verwaltungshandeln. Zugleich entwickelt das BVerfG aus den Grenzen dieser Öffnung, der in Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG ausdrücklich in Bezug genommenen Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG, die Grenzen der Freistellung der Akte deutscher Staatsgewalt vom deutschen Verfassungsrecht. Allerdings wurde auch diese im Anwendungsbereich der GRCh praktisch obsolet (zu den vom BVerfG gezogenen Grenzen s. Rn 44).
Grundsätzlich prüft das BVerfG nach seiner bisherigen Rechtsprechung auch nationale Rechtsvorschriften nicht am Maßstab des GG, die auf Richtlinien beruhen[33]. Zwar liegt mit dem deutschen Gesetz offensichtlich ein tauglicher Beschwerdegegenstand vor. Sofern die Richtlinie keine Umsetzungsspielräume belässt, fehlt aber die Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung und damit die Verfassungsbeschwerdebefugnis. Verbleiben Umsetzungsspielräume, ist der Gesetzgeber bei deren Ausfüllung sehr wohl (auch) an die verfassungsrechtlichen Maßstäbe gebunden[34]; dies gilt insbesondere, wenn eine Richtlinie dem nationalen Gesetzgeber Optionen anbietet, aber bestimmte Regelungen nicht zwingend vorschreibt (zum telekommunikationsrechtlichen Versteigerungsverfahren Rn 562 ff). Soweit das BVerfG eine Ultra-Vires-Kontrolle (gegenüber „ausbrechenden“ Akten der Union) als auch eine Identitätskontrolle (Einhalten der von Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Menschenwürde sowie damit wohl auch grundrechtlicher Mindeststandards und der Mindeststandards des Art. 20 GG)[35] in Anspruch nimmt, steht diese unter dem Vorbehalt einer vorherigen Anrufung des EuGH[36]. In den hier behandelten Bereichen der hier behandelten Bereiche des öffentlichen Wirtschaftsrechts spielt dies (anders als bei EZB-Maßnahmen und Rettungsschirmen[37]) bisher keine Rolle; das BVerfG selbst maß im Lissabon-Urteil seiner Prüfungskompetenz eine zwar grundsätzliche, aber „im Alltag der Rechtsanwendung eher theoretische“ Bedeutung bei[38]. Dies gilt insbesondere bei der Richtlinienumsetzung. Zugleich sind diese Umsetzungsvorschriften dann primär an den unionalen Grundrechten zu messen, da es sich um „Durchführung des Rechts der Union“ handelt (Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh)[39]. Insoweit ist es schlicht ausgeschlossen, dass der in Solange-II gemachte Vorbehalt einmal praktisch werden könnte[40].
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