Auch die Prüfung der Maßstäbe des Art. 20 GG führten zwar dazu, dass das BVerfG die Einrichtung europäischer unabhängiger Agenturen (dazu näher Rn 185 ff) als „aus Sicht des Demokratiegebots prekär“ bezeichnete, gleichwohl aber „keine grundsätzlichen Einwände“ hatte[41]. Allerdings stellt sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen nationalen und europäischen Grundrechten auch in diesen Konstellationen. Der EuGH erkannte an, dass es Konstellationen geben könne, die vom Unionsrecht „erfasst“, aber nicht „vollständig bestimmt“ seien, so dass europäische und nationale Grundrechte auch parallel zur Anwendung kommen könnten[42]. Zugleich betonte er, dass „keine Fallgestaltungen denkbar [sind], die vom Unionsrecht erfasst würden, ohne dass diese Grundrechte [der GRCh] anwendbar wären“[43]. Zunächst betonte das BVerfG in seiner Entscheidung zur Antiterrordatei, die Akerberg Fransson- Entscheidung dürfe nicht so verstanden werden, dass „für eine Bindung der Mitgliedstaaten durch die in der Grundrechte-Charta niedergelegten Grundrechte der Europäischen Union jeder sachliche Bezug zum bloß abstrakten Anwendungsbereich des Unionsrechts oder rein tatsächliche Auswirkungen“ ausreichen könnten[44]. Der EuGH hat klargestellt, dass allein eine Zuständigkeit der Union nicht ausreicht, sondern es sich um sekundärrechtlich geprägte Rechtsmaterie handeln muss[45]. Dennoch wurde dieser Vorbehalt bisher nicht praktisch. Das BVerfG prüft in diesen Fällen unter Verweis auf die unionsrechtlich zugelassene „Grundrechtsvielfalt“ primär das Grundrecht des GG[46].
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Diese Betonung seiner „Wächterfunktion“ im Hinblick auf grundrechtliche Mindeststandards verlor umso stärker an Überzeugungskraft, je mehr im Ergebnis der europäische Standard denjenigen des GG übertraf und der EuGH gerade umgekehrt auch Entscheidungen des BVerfG korrigierte. Dies geschah zunächst beim Aufeinandertreffen von Grundfreiheiten und Art. 12 GG im Glücksspielrecht (dazu Rn 69), aber in letzter Zeit ausgerechnet auch auf dem Gebiet der informationellen Selbstbestimmung. Mag die verfassungsrechtliche Etablierung dieses Grundrechts sogar dem BVerfG zu verdanken sein, so wurde das Datenschutzgrundrecht in den letzten Jahren vom EuGH sehr dynamisch weiterentwickelt und international durchgesetzt. Ende 2019 reagierte Karlsruhe mit einem Paukenschlag: In einem Fall mit Bezug zur DSGVO hat das BVerfG nunmehr den Anwendungsvorrang des Unionsrechts und insbesondere der GRCh vor den nationalen Grundrechtenausdrücklich anerkannt[47]. Zugleich leitet es aus dem „Kooperationsverhältnis“ mit dem EuGH ab, dass es auch seinerseits den Prüfungsmaßstab im Rahmen der Verfassungsbeschwerde modifiziertund die Akte deutscher Behörden am Maßstab der europäischen Grundrechte prüft[48].
Es bleibt abzuwarten, ob dies materiell die Gewichte zum Unionsrecht oder kompetenziell zur nationalen Kontrolle verschieben wird. Letztere forcierte der 2. Senat mit einer genauso überraschenden Entscheidung, in der er den Anwendungsbereich der Verfassungsbeschwerde und damit seine Kontrollmöglichkeiten hinsichtlich formeller Erfordernisse erheblich erweiterte[49]. Außerdem hatte gegenüber den EZB-Anleiheverkäufen erstmals eine ultra-vires-Kontrolle Erfolg, was voraussetzte, dass die Vertragsauslegung des EuGH im Vorlageverfahren als „nicht mehr nachvollziehbar und daher objektiv willkürlich“ qualifiziert wurde[50]. Dass dies ausgerechnet bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung angenommen wurde, macht es sicherlich nicht einfach, die BVerfG-Entscheidung nachzuvollziehen. Dies wiederum könnte Gegenstand eines Vertragsverletzungsverfahrens werden[51].
3. Verwaltungsrechtsschutz im Verbund
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Die Prüfung von Grundfreiheiten und Grundrechten obliegt in den meisten Fällen zunächst den Fachgerichten. Verwaltungsgerichtefungieren im öffentlichen Wirtschaftsrecht als zentrale Kontrollinstanz, die überall dort Rechtsschutz gewähren, wo öffentliches Wirtschaftsrecht durch deutsche Behörden vollzogen wird, selbst wenn deren Tätigkeit durch Unionsrecht geprägt ist[52]. Europäischer Rechtsschutzkommt für den Einzelnen in zwei Varianten in Betracht: Sofern ausnahmsweise europäische Behörden tätig werden (s. zur Bankenaufsicht durch die EZB Rn 191 ff)[53], aber auch gegenüber europäischen Verordnungen des Tertiärrechts (vgl Rn 91) ist die Nichtigkeitsklage nach Art. 263 Abs. 4 AEUVeinschlägig (zu dieser näher Rn 92). Zugleich sind die Grenzen der Fachgerichtsbarkeit zu beachten, die in Vorlagepflichten münden. Die Vorlageverfahren nach Art. 267 AEUVzum EuGH dient der Klärung unionsrechtlicher Fragen[54], die prinzipale Normenkontrolle nach Art. 100 GGsichert das Verwerfungsmonopol des BVerfG hinsichtlich nachkonstitutioneller Vorschriften. Die Verfassungsbeschwerdekommt im öffentlichen Wirtschaftsrecht idR nur als Urteilsverfassungsbeschwerde gegen letztinstanzliche Urteile in Betracht[55]. Da die Verletzung der Vorlagepflicht auch gegen den Anspruch auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG) verstößt, kommt es zu einer Verzahnung zwischen beiden Rechtskreisen.
Dabei gibt es für die Prüfungsreihenfolge beim Zusammentreffen unionsrechtlicher und verfassungsrechtlicher Bedenkennach Auffassung des BVerfG keine zwingende Reihenfolge[56]. Steht allerdings die Nichtanwendbarkeit der Norm im konkreten Fall fest, ist sie nicht mehr entscheidungserheblich iSv Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG[57]. Immer häufiger setzt aber auch sonst die Beantwortung verfassungsrechtlicher Fragen die Klärung europarechtlicher Vorfragen voraus; sie ist dann auch Voraussetzung einer Vorlage an das BVerfG[58]. Zugleich sind die Fachgerichte verpflichtet, die unionsrechtlichen Vorgaben zu prüfen und ggf gemäß Art. 267 AEUV dem EuGH vorzulegen; die Nichtvorlage kann im Vertragsverletzungsverfahren geprüft[59], aber vor allem auch mit der Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden: die Verletzung der Vorlagepflicht bedeutet zugleich einen Verstoß gegen den gesetzlichen Richter iSv Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG (ausführlich ▸ Klausurenkurs Fall Nr 2 ). Voraussetzung einer Verletzung des Anspruchs auf den gesetzlichen Richter ist jedoch, dass die Vorlage willkürlichunterblieb. Zwar hat das BVerfG[60] ausdrücklich anerkannt, dass hierbei auch unionale Maßstäbe eine Rolle spielten. Allerdings bleibe die Frage nach dem gesetzlichen Richter eine solche des nationalen Verfassungsrechts, die in allen Fällen der Vorlageverpflichtung nach gleichen Maßstäben geprüft werden und die Funktion des BVerfG beachten müsse. Vor diesem Hintergrund unterscheidet es drei Konstellationen[61]: Eine „grundsätzliche Verkennung der Vorlagepflicht“[62], ein bewusstes Abweichen von der EuGH-Rechtsprechung „zu entscheidungserheblichen Fragen“[63] und als wichtigste Fallgruppe die Überschreitung des gerichtlichen Beurteilungsspielraums bei Unvollständigkeit der Rechtsprechung[64].
§ 2 Der unions- und verfassungsrechtliche Ordnungsrahmen› II. Die Grundfreiheiten
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Fall 3:
Architekt A beauftragt im Rahmen eines Bauvorhabens in Deutschland den in den Niederlanden ansässigen Unternehmer U mit bestimmten, in Deutschland dem Handwerksrecht unterfallenden Bauarbeiten. U führte zwar in den Niederlanden zulässigerweise solche Arbeiten aus, war aber in Deutschland nicht in die Handwerksrolle eingetragen. Die Beauftragung verstieß damit zum Zeitpunkt der Erbringung der Leistungen gegen deutsches Handwerksrecht und stellte zugleich eine Ordnungswidrigkeit dar.
a) |
Können U und A sich auf die Grundfreiheiten berufen? |
b) |
Ändert sich an dieser Beurteilung etwas, wenn U, nachdem die Aufträge aus Deutschland häufiger werden, seine deutschen Aufträge vom Grundstück des Bauunternehmers B aus organisiert, mit dem er jeweils nur für die Dauer der Arbeiten einen Mietvertrag abschließt? |
c) |
Mittlerweile regeln europäische, in Deutschland umgesetzte Richtlinien den Fall. Kann U sich auf die Grundfreiheiten berufen, wenn er das in der RL vorgesehene Anzeigeerfordernis für einen Verstoß gegen die Grundfreiheiten hält? |
d) |
Als die Geschäfte in Deutschland erheblich besser laufen als in den Niederlanden, möchte U seine Geschäftstätigkeit vollständig nach Deutschland verlagern. Allerdings schreckt es ihn ab, dass er sich dazu nach dem deutschen Recht in die Handwerksrolle eintragen lassen muss. Außerdem möchte er das Unternehmen weiterhin in der niederländischen Rechtsform der BV (Besloten vennootschap met beperkte aansprakelijkheid) betreiben. |
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