339
Typische Fälle, in denen eine ergänzende Auslegung in Betracht kommt, sind[51]: Vorversterben einer bedachten natürlichen Person[52], Erlöschen oder Insolvenz einer bedachten juristischen Person[53], Hinzutreten weiterer Personen[54], Veränderungen hinsichtlich des vermachten Gegenstandes[55], Veränderungen in der Vermögenssituation des Erblassers (z.B. unerwarteter Vermögenserwerb[56]), Änderung der Rechtslage[57] oder inflationäre Geldentwertung[58].
7. Wohlwollende Auslegung (§ 2084)
340
Wenn der Inhalt einer letztwilligen Verfügung verschiedene Auslegungen zulässt, so ist gem. § 2084 im Zweifel diejenige Auslegung vorzuziehen, bei welcher die Verfügung Erfolg haben kann (sog. wohlwollende Auslegung – benigna interpretatio ). Zweck der Vorschrift ist es, dem Testierwillendes Erblassers soweit wie möglich zur rechtlichen Geltung zu verhelfen.[59] Mit „Erfolg“ ist deshalb nicht etwa schlicht die Rechtswirksamkeit der Verfügung gemeint, sondern die rechtswirksame Erreichung des vom Erblasser gewollten Ziels der Verfügung.[60] Bei diesem Verständnis erscheint § 2084 nicht als Gegensatz, sondern als besondere Ausprägung von § 133.[61]
341
Neben der gewöhnlichen (erläuternden) Auslegung (→ Rn. 325 ff.), und der ergänzenden Auslegung (→ Rn. 335 ff.) sowie der Umdeutung (→ Rn. 343) verbleibt für die Vorschrift des § 2084 nur noch ein eingeschränkter Anwendungsbereich. Erfasst sind nur die Fälle, in denen ein gültiges Testament vorliegt und die Auslegung zu keinem eindeutigen Ergebnis führt.[62] Ist der Wille des Erblassers hingegen gerade auf den zur Unwirksamkeit führenden Inhalt gerichtet, kommt nur eine Umdeutung in Betracht.[63] Kein Raum für § 2084 ist im Hinblick auf die Beurteilung, ob überhaupt eine Willenserklärung des Erblassers vorliegt oder ob es sich um einen bloßen Entwurf handelt.[64] Ebenso wenig ist § 2084 anwendbar, wenn Zweifel in Bezug auf die Einhaltung der Formerfordernisse bestehen (z.B. bezüglich der Frage, ob Text und/oder Unterschrift eigenhändig vom Erblasser geschrieben wurden).[65]
342
§ 2084ist allerdings analoganwendbar, wenn es um die Frage geht, ob eine Verfügung von Todes wegen oder ein Rechtsgeschäft unter Lebenden vorliegt; wenn die Erklärung nur bei einer dieser Deutungen rechtlichen Erfolg haben kann, ist dieser der Vorzug zu geben.[66]
343
Nach heute allgemeiner Meinung können auch Verfügungen von Todes wegen gem. § 140 umgedeutet werden.[67] Im Gegensatz zur Auslegung wird hier der Wille des Erblassers nicht gedeutet oder ergänzt, sondern korrigiert.[68] Voraussetzung für die Umdeutung einer nichtigen Verfügung von Todes wegen in ein anderes Rechtsgeschäftist, dass dessen Wirksamkeitsvoraussetzungen gegebensind und ein entsprechender hypothetischer Wille des Erblassersangenommen werden kann. Relevanz hat die Umdeutung vor allem bei formunwirksamen letztwilligen Verfügungen.
Beispiele:
Eine als gemeinschaftliches Testament gedachte letztwillige Verfügung, die mangels Unterschrift[69] oder Testierfähigkeit[70] eines Ehegattens unwirksam ist, kann in ein Einzeltestament des anderen umgedeutet werden (dies gilt richtiger Ansicht nach auch im Falle wechselbezüglicher Verfügungen, → Rn. 223). Eine in einem zweiseitigen Erbvertrag aufgrund der Geschäftsunfähigkeit des einen Teils unwirksame Verfügung kann in eine testamentarische Verfügung umgedeutet werden[71]. Die (wegen § 2302) unwirksame Verpflichtung, ein Testament zu errichten, die in einem notariellen Vertrag enthalten ist, kann in einen (bedingten) Erbvertrag umgedeutet werden[72]. Ein formungültiges Schenkungsversprechen unter Lebenden kann in ein Vermächtnis in Form eines eigenhändigen Testaments umgedeutet werden[73].
9. Wichtige Auslegungs- und Ergänzungsregeln
344
Die gesetzlichen Auslegungsregelnsollen eine Hilfestellung bei der Ermittlung der wirklichen Bedeutung einer in einem Testament enthaltenen Erklärung des Erblassers geben. Die Regeln entsprechen allgemein anerkannten Erfahrungssätzen und sind nur dann anzuwenden, wenn der Wille des Erblassers durch Auslegung nicht ermittelt werden kann. Von den Auslegungsregeln sind die Ergänzungsregelnzu unterscheiden. Letztere greifen bei einer fehlenden oder lückenhaften Regelung durch den Erblasser ein, die auch nicht durch ergänzende Auslegung geschlossen werden kann. Ihre Anwendung führt für den Fall des Versagens einer Auslegungsregel zu einer vom Erblasserwillen weitgehend autonomen Gestaltungsentscheidung des Gesetzgebers. Von den zahlreichen über das gesamte 5. Buch des BGB verstreuten Regeln können hier nur die wichtigsten erläutert werden. Im konkreten Anwendungsfall müssen die Regelungen im Einzelnen geprüft werden.
a) Zweifel über das Vorliegen einer Erbeinsetzung, § 2087
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Im allgemeinen Sprachgebrauch werden die Ausdrücke „vererben“ und „vermachen“ häufig nicht im juristisch-technischen Sinne verwandt. Entscheidend für die Frage, ob eine Erbeinsetzung(→ Rn. 728 ff.) oderein Vermächtnis(→ Rn. 900 ff.) vorliegt, ist jedoch nach allgemeinen Grundsätzen nicht der Wortlaut, sondern der im Wege der Auslegung zu ermittelnde wirkliche Wille des Erblassers (§ 133, → Rn. 325, 334). Für den Fall, dass die Auslegung zu keinem eindeutigen Ergebnis führt[74], stellt § 2087 zwei Auslegungsregeln auf: Nach Abs. 1 ist im Falle der Zuwendung des gesamten Vermögens oder eines Bruchteils davon im Zweifel eine Erbeinsetzung anzunehmen; wenn dem Bedachten hingegen nur einzelne Gegenstände zugewendet werden, so ist gem. Abs. 2 im Zweifel von einem Vermächtnis (→ Rn. 900 ff.) auszugehen.
346
Speziell im Falle der Zuwendung einzelner Vermögensgegenständekann es aber durchaus sein, dass sich bereits im Wege der Auslegung ergibt, dass der Erblasser gleichwohleine Erbeinsetzungwollte (und somit § 2087 Abs. 2 erst gar nicht zur Anwendung gelangt). Dies ist insb. in folgenden Konstellationen der Fall:[75]
• |
wenn der Erblasser sein Vermögen vollständig den einzelnen Vermögensgegenständen nach verteilt hat; |
• |
wenn er dem Bedachten einen Gegenstand oder Gegenstände zugewendet hat, die nach seiner Vorstellung das Hauptvermögen bilden (z.B. ein Hausgrundstück); |
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wenn nur Vermächtnisnehmer vorhanden wären und nicht anzunehmen ist, dass der Erblasser überhaupt keine Erben berufen und seine Verwandten oder seinen Ehegatten als gesetzliche Erben ausschließen wollte. |
b) Zweifel über die Person des Bedachten
aa) Allgemeines
347
Die §§ 2066–2073enthalten Auslegungs- und Ergänzungsregeln für den Fall, dass Zweifel hinsichtlich der Person des Bedachten bestehen. Ihr gemeinsamer Grundgedanke ist, dass die Auslegung letztwilliger Verfügungen sich im Zweifel an der gesetzlichen Erbfolge orientieren soll.[76]
348
Setzt der Erblasser nur seine „gesetzlichen Erben“ ein, so sind gem. § 2066 S. 1 diejenigen im Verhältnis der gesetzlichen Erbteile bedacht, die im Zeitpunkt des Erbfalls die gesetzlichen Erbenwären. Entsprechendes gilt bei ähnlichen Formulierungen, wie z.B. „rechtmäßige Erben“ oder schlicht „Erben“.[77]
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Nach § 2067 S. 1 sind bei einer Einsetzung der „(nächsten) Verwandten“ im Zweifel diejenigen Verwandten bedacht, die zur Zeit des Erbfalls gesetzliche Erbenwären; auch hier im Verhältnis ihrer gesetzlichen Erbteile. „Verwandte“ bezieht sich insoweit grundsätzlich nur auf Verwandte i.S.d. Gesetzes (§ 1589), d.h. nicht auf Ehegatten.[78] Anders hingegen, wenn der Erblasser den Begriff „Familie“ verwendet; hierzu gehört dann regelmäßig auch der Ehegatte.[79] Im Übrigen gilt auch hier – wie allgemein – der Vorrang der individuellen Auslegung; die Auslegungsregel des § 2067 S. 1 greift nur, wenn diese zu keinem eindeutigen Ergebnis führt.[80]
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