3. Vorrang der Auslegung und Auslegungsregeln
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Ob im konkreten Fall die Einheits- oder Trennungslösung gewollt ist, ist im Wege der Auslegungdes gemeinschaftlichen Testaments (→ Rn. 377 ff.) zu ermitteln. Nur dann, wenn die Auslegung zu keinem eindeutigen Ergebnis führt, greift die Auslegungsregel des § 2269 Abs. 1[51]: Danach gilt im Zweifel das Einheitsprinzip. Entsprechendes gilt für die ergänzende Auslegungsregel des § 2269 Abs. 2, wonach ein erst nach dem Tode des Überlebenden zu erfüllendes Vermächtnis im Zweifel erst mit dem Tod des Überlebenden anfallen soll.
Teil III Die gewillkürte Erbfolge› § 9 Das gemeinschaftliche Testament› V. Wechselbezügliche Verfügungen
V. Wechselbezügliche Verfügungen
1. Begriff der wechselbezüglichen Verfügung
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Wechselbezüglich (korrespektiv) sind gem. § 2270 Abs. 1Verfügungen, von denen anzunehmen ist, dass die Verfügung des einen Ehegatten nicht ohne die Verfügung des anderen Ehegatten getroffen sein würde. Die Verfügungen müssen nach dem Willen der Eheleute so eng miteinander verbunden sein, dass sie nach dem beiderseitigen Willen „miteinander stehen und fallen“sollen.[52]
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Wechselbezügliche Verfügungen können gem. § 2270 Abs. 3nur sein: Erbeinsetzungen(→ Rn. 728 ff.), Vermächtnisse(→ Rn. 900 ff.), Auflagen(→ Rn. 937 ff.) und Rechtswahlerklärungen(→ Rn. 1481 ff., 1493, 1496).
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Ihrem Wortlaut nach erfassen §§ 2270, 2271 nur den Fall der gegenseitigen Abhängigkeit. Nach zutr. h.M. ist es aber auch möglich und zulässig, dass nur die Verfügung des einen Ehegatten von der des anderen abhängig ist, aber nicht umgekehrt; im Fall einer sog. einseitigen Wechselbezüglichkeitgelten §§ 2270, 2271 analog.[53]
2. Feststellung der Wechselbezüglichkeit
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Ob Wechselbezüglichkeit vorliegt, ist nach allgemeinen Auslegungsgrundsätzen(→ Rn. 377 ff.) für jede Verfügung gesondert zu ermitteln, wobei der übereinstimmende Wille der Ehegatten zum Zeitpunkt der Testamentserrichtung maßgeblich ist.[54]
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Nur dann, wenn der Wille der Ehegatten im Wege der Auslegung nicht zuverlässig festgestellt werden kann, ist die Auslegungsregel des § 2270 Abs. 2heranzuziehen.[55] Danach ist Wechselbezüglichkeit im Zweifel in zwei Fallkonstellationen anzunehmen: (i) wenn sich die Eheleute gegenseitig bedacht haben, oder (ii) wenn der eine Ehegatte vom anderen durch eine Verfügung eine Zuwendung bekommen hat und er dafür – quasi als Gegenleistung – eine Verfügung zugunsten einer Person trifft, die mit dem anderen Ehegatten verwandt ist oder ihm sonst nahe steht. Beide Fallkonstellationen könne auch miteinander verbunden werden[56], z.B. indem die Ehegatten sich gegenseitig bedenken und zusätzlich bestimmen, dass ein mit beiden verwandter oder beiden nahestehender Dritter Erbe des Letztversterbenden werden soll. Der Begriff „verwandt“ ist i.S.d. Legaldefinition des § 1589 zu verstehen.[57] Wer eine „sonst nahestehende Person“ ist, ist anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls zu bestimmen[58], wobei ein strenger Maßstab angelegt werden muss, um die Vermutung nicht zur gesetzlichen Regel werden zu lassen[59]. Umstritten ist, ob auch juristische Personen bzw. Personengesellschaften „nahestehende Personen“ sein können[60]; zumindest für den Fall einer von den Eheleuten von Todes wegen errichteten Stiftung, mit der diese ihr Lebenswerk fortgesetzt wissen wollen, wird man dies jedoch bejahen müssen[61].
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Beispiel 1:
Die Eheleute X und Y setzen sich in ihrem gemeinschaftlichen Testament gegenseitig als Alleinerben und als Schlusserben die gemeinsamen Kinder ein. Die gegenseitige Einsetzung zum Alleinerben ist gem. § 2270 Abs. 2 Alt. 2 im Zweifel wechselbezüglich. Die Einsetzung der gemeinsamen Kinder als Schlusserben steht dagegen regelmäßig nicht im Verhältnis der Wechselbezüglichkeit zueinander, da nach der allgemeinen Lebenserfahrung nicht anzunehmen ist, dass ein Ehegatte die gemeinsamen Kinder nur deshalb testamentarisch bedenkt, weil es auch der andere tut.[62]
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Beispiel 2:
M und F setzen sich in ihrem gemeinschaftlichen Testament gegenseitig als Alleinerben und die Schwester Z von F als Schlusserbin ein. Sofern die Auslegung des Testaments zu keinem eindeutigen Ergebnis führt, ist gem. § 2270 Abs. 2 im Zweifel anzunehmen, dass die Erbeinsetzung der Z als Schlusserbin zwar wechselbezüglich zur Erbeinsetzung des M, aber nicht zur Erbeinsetzung der F ist (denn ein Verwandtschaftsverhältnis besteht nur zwischen F und Z). Je nach den Umständen des Einzelfalls könnte Z allenfalls eine „sonst nahestehende Person“ des M sein; hierfür genügt die bloße Schwägerschaft jedoch grundsätzlich nicht[63].
3. Folgen der Wechselbezüglichkeit
a) Unwirksamkeit einer Verfügung
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Relevanz hat die Wechselbezüglichkeit zunächst im Falle der Nichtigkeit oder des Widerrufs einer Verfügung: Gem. § 2270 Abs. 1ist dann kraft Gesetzes auch die korrespondierende Verfügung des anderen Ehegatten unwirksam. Die Ursache der Nichtigkeit (z.B. Formfehler, Testierunfähigkeit, Anfechtung) ist dabei irrelevant.[64]
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Weiterhin hat die Wechselbezüglichkeit zur Folge, dass das Recht zum Widerruf eingeschränktist: Zu Lebzeiten des anderen Ehegatten bedarf er einer speziellen Form (→ Rn. 248 f.), nach dessen Tod ist er gänzlich ausgeschlossen (→ Rn. 250 ff.).
aa) Zu Lebzeiten des anderen Ehegatten
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Zu Lebzeiten des anderen Ehegatten kann ein Ehegatte eine wechselbezügliche Verfügung zwar grundsätzlich frei widerrufen, der Widerruf bedarf jedoch gem. § 2271 Abs. 1 S. 1der für den Rücktritt vom Erbvertrag geltenden Form des § 2296, d.h. er muss durch eine persönliche notariell beurkundete Erklärung gegenüber dem anderen Ehegatten erfolgen. Dadurch soll verhindert werden, dass ein Ehegatte seine Verfügung heimlich widerruft.[65] Mit dem wirksamen Widerruf erlischt gem. § 2270 Abs. 1 auch die wechselbezügliche Verfügung des anderen Ehegatten.
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Die Ehegatten können ihre wechselbezüglichen Verfügungen aber selbstverständlich auch gemeinsam widerrufen.[66] Dabei sind grundsätzlich sämtliche Widerrufsformen zulässig, die auch bei einem „normalen“ Testament zulässig sind, nur müssen eben – um „Heimlichkeiten“ zu verhindern – beide Ehegatten gemeinschaftlich handeln. Möglich sind somit: ein gemeinschaftliches Widerrufstestament (§ 2254), eine widersprechende Verfügung in einem gemeinschaftlichen Testament (§ 2258) oder Erbvertrag (§ 2289), durch gemeinschaftliche Vernichtung oder Veränderung gem. § 2255 oder durch gemeinschaftliche Rücknahme aus der amtlichen Verwahrung (§§ 2272, 2256).[67]
Die formlose Zustimmung zu einer neuen (einseitigen) Verfügung von Todes wegen des anderen Ehegatten[68] bzw. die nachträgliche Zustimmung zur Vernichtung des gemeinschaftlichen Testaments[69] ist nicht ausreichend. Eine notariell beurkundete Zustimmungserklärung reicht nur aus, wenn Vermächtnisse oder Auflagen aufgehoben werden ( argumentume § 2291).[70] Ein später errichtetes einfaches Testament hat aber dann Vorrang vor dem gemeinschaftlichen Testament, wenn es den überlebenden Ehegatten lediglich rechtlich besser stellt, da der Schutzzweck des § 2271 Abs. 1 in einem solchen Fall nicht berührt ist[71].
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