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In kritischen Untersuchungen der Vergerichtlichung wird die Rechtswissenschaft oft als Verbündete der Judikative abgestempelt, die der Letzteren hilft, ihre Macht auf Kosten der Legislative auszudehnen[63] und auch ihre eigenen strategischen Interessen auf dem Gebiet des Rechts zu verfolgen. Jedoch ist es leicht, Gegenbeispiele zu finden, die beweisen, dass eine solche Symbiose zwischen oder Zusammenarbeit von Rechtswissenschaft und Judikative ein zufälliges Phänomen ist und dass Erstere auch einen kritischen Standpunkt gegenüber Letzterer einnehmen kann. In Finnland gibt es keine Anzeichen einer solchen Allianz zwischen Richtern und Wissenschaftlern; vielmehr finden Wissenschaftler ihren Platz in möglichen institutionellen Konflikten zwischen Gerichten und dem Parlament höchst selbstverständlich auf Seite des Letzteren. In der Tat war die allgemeine Haltung der Verfassungsrechtler gegenüber der gerichtlichen ex post-Kontrolle häufig kritisch. Und tatsächlich ist ein wachsames Auge auf die gerichtliche Kontrolle von Seiten der Wissenschaftler nötig, um die Grenzen der rechtfertigbaren Verfassungskontrolle zur Geltung zu bringen.
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Unabhängige Wissenschaft ist für das Verfassungsrecht vielleicht wichtiger als für jedes andere Rechtsgebiet. Aber besondere Umstände wirken gegen die wissenschaftliche Unabhängigkeit. Verfassungsrechtsprofessoren bilden typischerweise eine einflussreiche Gruppe von Richtern am Verfassungsgericht und sind auch als Berater und Experten aktiv an der Verfassungskontrolle beteiligt. In Finnland sind Wissenschaftler als Experten tief in die Arbeit des Grundgesetzausschusses eingebunden. Unter diesen Umständen besteht die Gefahr einer Kooptation unmittelbar. Die finnische Verfassungsrechtslehre kann möglicherweise für exzessiven Respekt gegenüber dem Grundgesetzausschuss getadelt werden: Es ist schwierig, eine kritische Distanz zu einer Lehre und den entsprechenden Entscheidungen zu bewahren, zu denen man selbst beigetragen hat.
§ 98 Verfassungsgerichtsbarkeit in Finnland› III. Aspekte der Evaluierung › 3. Die Rolle der deutschen Lehre
3. Die Rolle der deutschen Lehre
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Die Folgen der Verfassungskontrolle für die Vergerichtlichung der Politik zeigen sich auch in den verfassungsrechtlichen Lehren und anderen Elementen der Verfassungskultur. Oft genug werden diese Elemente anhand der Alternativen des richterlichen Aktivismus und der richterlichen Selbstbeschränkung besprochen. Wie die Erfahrung der Vereinigten Staaten zeigt, können sich Phasen der Selbstbeschränkung und des Aktivismus abwechseln: Dies stimmt u.a. überein mit der Resonanz, die Gegner der Verfassungskontrolle in der rechtlichen und politischen Kultur finden. Viel mag auch von kulturellen und soziologischen Vorbedingungen eines demokratischen Rechtsstaats abhängen, wie die aktivistischen Verfassungsgerichte in Zentral- und Osteuropa zeigen. Der Aktivismus des EuGH – des „Verfassungsgerichts“ der EU – für seinen Teil war eindeutig mit den Schwierigkeiten bei der transnationalen politischen Entscheidungsfindung und den besonderen Erfordernissen, eine völlig neue Rechtsordnung zu schaffen, verknüpft.[64]
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Auch der in der Verfassungsrechtsprechung vorhandene dogmatische Apparat beeinflusst den Grad der richterlichen Selbstbeschränkung bzw. des richterlichen Aktivismus. Selbst ausdrückliche Verfassungsbestimmungen können eine Rolle spielen, wie etwa das Erfordernis eines offensichtlichen Konflikts, das sowohl in der finnischen – wie auch in der schwedischen – Verfassung ausdrücklich genannt wird: Dieses Erfordernis hat das Anliegen von richterlicher Selbstbeschränkung positiviert. Es gibt auch speziellere Lehren, welche die Verfassungsrechtsprechung auffordern, gegenüber den politischen Bereichen des Staates institutionelle Zurückhaltung zu zeigen, wie etwa die political question -Doktrin der Vereinigten Staaten, die beispielsweise die Entscheidungsfindung bezüglich der Außenpolitik großenteils von gerichtlicher Einmischung abgeschirmt hat, oder die margin-of-appreciation -Doktrin (Lehre vom Beurteilungsspielraum), die als Instrument dient, damit der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Bewertung der Umstände durch nationale Staatsbehörden, welche Beschränkungen der Konventionsrechte rechtfertigen, nicht anzweifelt. Aber natürlich gibt es auch Lehren, die richterlichen Aktivismus rechtfertigen und die deshalb kritisiert wurden. In der deutschen Kritik des verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaates wurde vielfach der Lehre von den Grundrechtsnormen als Rechtsprinzipien mit weitem Anwendungsbereich, der Lehre von der Drittwirkung von Grundrechten und der Lehre von der Schutzpflicht des Staates die Schuld gegeben. Diese Lehren haben eine klare Wirkung auf die travaux préparatoires der finnischen Grundrechtsreform von 1995 hinterlassen und die Verfassung hat sogar die Schutzpflicht in einer ausdrücklichen Norm geregelt (Art. 22). Aber wie ich im Folgenden argumentieren werde, bremst das Erfordernis des offensichtlichen Konflikts die Vergerichtlichung, die diese Lehren vielleicht sonst bewirken würden.
a) Ausdehnung der Freiheitsrechte
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Nach dem üblichen Verständnis sind Grundrechte subjektive Rechte, die private Individuen vor der willkürlichen Gewaltausübung durch den Staat und andere öffentliche Behörden schützen. Diese Anschauung bezieht sich auf das traditionelle Verständnis der Gewaltbegrenzung durch den Rechtsstaat. Die Drittwirkung (oder Horizontalwirkung) dehnt die Schutzfunktion der Freiheitsrechte auf Machtbeziehungen aus, in denen beide Parteien private Personen darstellen. Eine solche Ausdehnung erscheint begründet im Lichte der oft künstlichen und sogar porösen Grenze zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten. Je weiter private Beziehungen sich von den Prinzipien der Freiheit und Gleichheit entfernen, welche die ideologische Basis des Privatrechts ausmachen, desto mehr Elemente übernehmen sie, die für das öffentliche Recht typisch sind und desto berechtigter ist es, sie in den Anwendungsbereich der verfassungsrechtlichen Freiheitsrechte aufzunehmen.[65]
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Die kürzliche Privatisierungswelle hat der Drittwirkung der Grundrechte, verstanden als subjektive Abwehrrechte, eine neue Bedeutung und eine neue Rechtfertigung verliehen. Falls Verwaltungsaufgaben privatisiert werden, sollte die Schutzfunktion der Grundrechte auch „privatisiert“ werden, d.h. in ihrer Anwendung auf die empfangende Privatorganisation ausgedehnt. Eine Neuerung der finnischen Verfassung aus dem Jahre 2000 ist es, für solche Privatisierungen vorzusorgen. Art. 124 bestimmt, dass, wenn Aufgaben der öffentlichen Verwaltung an andere als öffentliche Behörden delegiert werden, man durch Gesetz sicherstellen muss, dass die Grundrechte, der Rechtsschutz und andere Erfordernisse einer guten Verwaltung nicht gefährdet werden. Wenn Aufgaben der öffentlichen Verwaltung unter Art. 124 auf Funktionseinheiten der sogenannten indirekten öffentlichen Verwaltung übertragen werden, gliedert man diese Funktionseinheiten in die öffentlichen Behörden ein, die durch die Grundrechtsbestimmungen unmittelbar gebunden sind.
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Alles in allem ist es vernünftig, den Freiheitsrechten eine horizontale Wirkung in hierarchisch strukturierten Beziehungen zuzubilligen. Dennoch ist es, zumindest in kontinentaleuropäischen Zivilrechtsländern wie Finnland, auch gerechtfertigt zu fragen, wer berechtigt sein sollte, über eine solche Ausdehnung der Reichweite der Grundrechte zu entscheiden: die Legislative oder die Gerichte? Man kann behaupten, dass es hauptsächlich Sache der Legislative und nicht der Gerichte sei zu bewerten, welche Arten der privaten Beziehungen den verfassungsrechtlichen Freiheitsrechten unterfallen sollten. Beschreibt man die öffentlichen Behörden, die unmittelbar durch Grundrechtsnormen gebunden sind, existieren recht genaue formal-organisatorische Kriterien. Im Gegensatz dazu sind bei der Beschreibung der Reichweite der Horizontalwirkung der subjektiven Freiheitsrechte keine solchen formalen Kriterien zur Hand; hierfür bedarf es einer grundlegenden Überlegung und die Gesetzgebung ist dafür vielleicht besser geeignet als die Gerichte.
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