3. Die Erpressung im Reichsstrafgesetzbuch von 1871
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Als im Zuge der Reichseinigung der Norddeutsche Bund 1867 die Kompetenz zur Strafgesetzgebung erhielt, zeichnete sich bald ab, dass das kommende Reichsstrafrecht maßgeblich auf der Grundlage des Preußischen Strafgesetzbuches von 1851 ruhen würde.[20] Der erste Entwurf zum Strafgesetzbuch des Norddeutschen Bundes(Entwurf Friedberg ) übernahm daher auch – im Hinblick auf die Erpressung – die §§ 234 und 236 prStGB und fügte lediglich eine Qualifikation für den Fall der Drohung mit Mord, Brandstiftung oder Überschwemmung hinzu (§ 231 Abs. 2 E-Friedberg). Die Erweiterung des Tatbestands auf sämtliche Drohungen (und nicht nur auf solche mit der Begehung eines Verbrechens oder Vergehens) erfolgte dann auf Antrag Dobrindts in der XX. Sitzung der Bundesratskommission von 1869.[21]
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Im Reichsstrafgesetzbuchvon 1871[22] wurde die Erpressung zwar in enger Anlehnung an das preußische Recht, inhaltlich aber wesentlich weiter ausgestaltet. Eine Regelung fand sich, wie auch heute, in den §§ 253–255 RStGB. Nach heutigem Verständnis würde man sie als Nötigung einstufen, die auf die Erlangung eines Vermögensvorteils abzielt. Die Vorschriften lauteten:
§ 253: Wer, um sich oder einem Dritten einen rechtswidrigen Vermögensvortheil zu verschaffen, einen Anderen durch Gewalt oder Drohung zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung nöthigt, ist wegen Erpressung mit Gefängniß nicht unter einem Monat zu bestrafen. Der Versuch ist strafbar.
§ 254: Wird die Erpressung durch Bedrohung mit Mord, mit Brandstiftung oder mit Verursachung einer Ueberschwemmung begangen, so ist auf Zuchthaus bis zu fünf Jahren zu erkennen.
§ 255: Wird die Erpressung durch Gewalt gegen eine Person oder unter Anwendung von Drohungen mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben begangen, so ist der Thäter gleich einem Räuber zu bestrafen.
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Anders als in § 234 prStGB reichte ein „Unternehmen der Tat“ also nicht mehr aus, die Erpressung musste vielmehr vollendetsein. Zudem wurde der Vermögensbezug („rechtswidriger Vermögensvortheil“) nun deutlich herausgestellt, es reichte also nicht mehr jeder „Vorteil“ aus. Schließlich wurde das Nötigungsmittel auf „Gewalt oder Drohung“ allgemein erweitert, also nicht mehr die Bedrohung gerade mit der Verübung eines Verbrechens oder Vergehens gefordert. Im Vergleich zur heutigen Fassung fällt insbesondere die Weite der „Drohungsvariante“ auf. Da – anders als heute – kein zusätzliches Erfordernis der „Verwerflichkeit“ der Tat bestand, erfasste der Wortlaut der Norm zahllose Konstellationen sozialüblicher Einwirkungen auf die Willensfreiheit anderer Personen. Dieses Problem wurde in der zeitgenössischen Kommentarliteratur durchaus gesehen. Man versuchte daher die strafwürdigen von den nicht strafwürdigen Fällen teilweise dadurch zu scheiden, dass man in bestimmten Fällen dem Opfer die vom Tatbestand angeblich vorausgesetzte metus iustus (gerechte Furcht) absprach (etwa im Fall der Drohung mit einer unbegründeten Klageerhebung).[23] Schwierigkeiten warf aber auch die Abgrenzung der einfachen Erpressung von Raub und räuberischer Erpressung auf, weil der Reichsstrafgesetzgeber, anders als viele Partikularstrafgesetzbücher, die Tatbestände nicht komplementär ausgestaltet hatte. Die Abgrenzung von Erpressung und Raub wurde über den Begriff der „leichten Gewalt“ (also Gewalt, die nicht gegen eine Person stattfand) gesucht, aber letztlich nicht überzeugend gefunden.[24] Auch war § 253 RStGB (mit einem sehr frühen Vollendungszeitpunkt) als „kupiertes Erfolgsdelikt“ ausgestaltet. Es reichte die Absicht, sich einen „rechtswidrigen Vermögensvortheil“ zu verschaffen. Im Gegensatz zum heutigen Recht musste aber nicht einmal ein Vermögensschaden eingetreten sein, es reichte eine Nötigung eines anderen zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung aus.[25] Auch eine Schädigungsabsicht war nicht erforderlich.
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Prägend für die Rechtspraxis der Erpressung während des Kaiserreichs war im Übrigen ihre Instrumentalisierung zur Unterdrückung von Arbeitskämpfen. Die weite und unbestimmte Fassung des Tatbestands ermöglichte es dem Reichsgericht in einer Reihe von Leitentscheidungen, die Durchführung von Streiks oder die Organisation von Arbeitern im Vorfeld von Streiks als Erpressung strafrechtlich zu ahnden. So hat das Reichsgericht die Drohung mit der Arbeitseinstellung oder mit einer Nichtwiederaufnahme selbst dann als „Drohung“ im Sinne des § 253 RStGB aufgefasst, wenn der Arbeitnehmer nach seinem Arbeitsvertrag zur sofortigen Arbeitsniederlegung bzw. Kündigung berechtigt war.[26]
4. Die Erpressung in den Reformentwürfen des Kaiserreichs und der Weimarer Republik
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Schon bald nach dem Inkrafttreten des StGB setzte im Kaiserreich eine rege Reformdiskussion ein, die auch die Vorschriften der Erpressung umfasste. Schon der erste große Reformentwurf, der E 1909, sah eine Neuregelung der Erpressung in § 275 vor. Diese sollte als eine dem Raub subsidiäre Nötigungsvorschrift ausgestaltet werden. Voraussetzung der Erfüllung des Tatbestands war das Abnötigen eines Vermögensnachteils mit Gewalt oder Drohung in der Absicht, einen „unrechtmäßigen Gewinn“ zu erzielen. Eine Qualifikation für Fälle der räuberischen Erpressung war im E 1909 nicht vorgesehen.[27] Bewusst verzichtet wurde auf eine nähere Eingrenzung der „Drohung“, insbesondere auf die Abgrenzung von erlaubten und unerlaubten Drohungen, denn man glaubte, mit dem Merkmal der „Absicht unrechtmäßigen Gewinns“ insoweit die nicht strafwürdigen Fälle ausscheiden zu können.[28] Die Probleme dieses Ansatzes legte Mittermaier bereits ein Jahr später dar[29] und schlug vor, die Erpressung unter den Vorbehalt zu stellen, dass bei einer „nicht an sich rechtswidrigen Drohung“ die „Vermögensaufwendung nicht mehr eine den Verhältnissen angemessene Gegenleistung für die Abwendung des Zwanges sein [darf]“.[30]
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Einen entgegengesetzten Standpunkt nahm der Gegenentwurf 1911ein. Dieser verlangte in § 320 ausdrücklich einen „ dem Recht zuwiderlaufenden Vorteil“, um Situationen auszuscheiden, in denen der Täter Druck ausübt, um einen Vermögensvorteil zu erlangen, auf den er zwar keinen Anspruch hat, der aber gleichwohl als sozialüblich erachtet wurde, so z.B. wenn der Beleidigte die Rücknahme seiner Privatklage von der Zahlung einer „Geldbuße an die Armenkasse“ abhängig macht.[31]
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Der E 1913, der kriegsbedingt erst 1920 veröffentlicht wurde, nahm die Kritik an der Weite des E 1909 teilweise auf und verlangte in § 365 für die Erpressung – in der Drohungsvariante – entweder die Drohung mit einem „anderen rechtswidrigen Verhalten“ oder eine „Drohung, die den Gewohnheiten des redlichen Verkehrs widerspricht“. Ähnlich restriktiv war die Fassung in § 370 des E 1919, der bei der Drohung allein die Drohung mit einem Verbrechen oder Vergehen oder einer Strafanzeige bzw. „anderen Nachteilen für Ehre oder guten Ruf“ genügen ließ. Dass der Tatbestand auf diese Weise auf Fälle der Gewalt und auf die Chantage eingeengt worden wäre, wurde von den Entwurfsverfassern gesehen, doch stellten sich diese auf den Standpunkt, dass eine zu enge Tatbestandsfassung einer zu weiten gegenüber vorzugswürdig sei.[32]
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Die weiteren Bemühungen um eine Totalreform des Reichsstrafgesetzbuches begannen mit dem Entwurf Radbruch, der im Zeichen einer liberalen Neuordnung des Strafrechts stand und u.a. auf die Todesstrafe und eine Vielzahl von Sittlichkeitsdelikten verzichtete. Dieser Entwurf übernahm die enumerative Technik des E 1919 und ließ in § 298 für die Erpressung das Merkmal der „ gefährlichen Drohung“ ausreichen. Diese wiederum wurde in § 11 Nr. 7 StGB-E als „Drohung mit Gewalt, mit einem Verbrechen oder Vergehen, mit einer Strafanzeige oder der Offenbarung einer Tatsache, die geeignet ist, den Ruf zu gefährden“ legal definiert. Der vom Reichskabinett schließlich dem Reichsrat zur Beratung vorgelegte E 1925verwässerte zwar in vielerlei Hinsicht den liberalen Impetus des Radbruchschen Reformentwurfs, ließ jedoch die Vorschriften zur Erpressung unverändert.[33] Auch die Beratungen im Reichsrat, die in der Reichstagsvorlage des E 1927gipfelten, führten lediglich zu redaktionellen Änderungen. Bemerkenswert an diesem Reformvorschlag war einerseits die sehr enge tatbestandliche Begrenzung der Erpressung, die ausdrücklich unter Hinweis auf die als misslich empfundene Arbeitskampfrechtsprechung des Reichsgerichts gewählt wurde.[34] Andererseits fällt das völlige Fehlen einer Strafvorschrift zur räuberischen Erpressung auf. Letztere war in den Entwürfen gegenüber dem Verbrechen des Raubes insoweit deutlich privilegiert.
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