5. Die Erpressung im Nationalsozialismus
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Die Diskussion einer Strafrechtsreform im Nationalsozialismus stand zwischen Kontinuität und Umbruch[35] und wurde von einer Vielzahl von Akteuren getragen. Die Kontinuität zeigte sich im E 1933des Reichsjustizministeriums, der schlicht eine überarbeitete Version des E 1927darstellte. Hinsichtlich des Erpressungstatbestandes behielt der Entwurf die Regelungstechnik des Vorentwurfs bei, erweiterte diesen aber entscheidend. Denn die „gefährliche Drohung“ nach § 9 Nr. 7 StGB-E sollte nun auch die Androhung eines „anderen empfindlichen Übel[s]“ erfassen, „wenn es gegen die guten Sitten verstößt, dieses Übel zu dem verfolgten Zweck anzudrohen oder zuzufügen“. In der Sache war damit vieles vorweggenommen, was zehn Jahre später Gesetz werden sollte. Dem entsprach auch der E 1936, der die Vorschrift nur redaktionell umgestaltete.[36] Die noch in der Weimarer Zeit angestrebte rechtsstaatliche Begrenzung des Tatbestands war den Zielen des nationalsozialistischen Strafrechts, eine Auflockerung der Begrenzungsfunktion des Strafrechts zu erreichen, ohnehin zuwider. So enthielten beide Reformentwürfe das mittlerweile Gesetz gewordene Analogiegebot in § 2 RStGB. Weitere Reformüberlegungen stellte auch die 1933 gegründete Akademie für Deutsches Recht an.
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Der Krieg verhinderte jedoch die geplante Totalreform des Strafrechts.[37] Eine Veränderung erfuhr der Straftatbestand der Erpressung indes mit der Strafrechtsangleichungsverordnungvom 29. Mai 1943.[38] Durch Art. 3 dieser VO erhielt § 253 RStGB nun folgende, dem heutigen Leser durchaus vertraute Fassung:
(1) Wer einen anderen rechtswidrig mit Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung nötigt und dadurch dem Vermögen des Genötigten oder eines anderen Nachteil zufügt, um sich oder einen Dritten zu Unrecht zu bereichern, wird wegen Erpressung mit Zuchthaus oder mit Gefängnis nicht unter sechs Monaten bestraft.
(2) Rechtswidrig ist die Tat, wenn die Anwendung der Gewalt oder die Zufügung des angedrohten Übels zu dem angestrebten Zweck dem gesunden Volksempfinden widerspricht.
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In der Sache stellt der Entwurf also eine punitive Mischung aus den Ansätzen des E 1933und des E 1936dar. Auffällig ist die für das nationalsozialistische Strafrecht typische Bezugnahme auf das „ gesunde Volksempfinden“ in Absatz 2. Eine randscharfe Abgrenzung von strafbarem und nicht strafbarem Verhalten war vom Verordnungsgeber nicht beabsichtigt, die offene Rechtswidrigkeitsklausel des Absatzes 2 schuf vielmehr die Möglichkeit, die Strafnorm „flexibel“ zu handhaben. Andererseits wurde der Vollendungszeitpunkt nach hinten verschoben: Verlangt wurde nunmehr der tatsächliche Eintritt eines Vermögensschadensdes Genötigten oder eines Dritten, sodass ein Gleichlauf mit dem Betrug hergestellt werden konnte. Andererseits wurde die in § 254 RGStB a.F. noch enthaltene Qualifikation der „schweren Erpressung“ durch die Strafrechtsangleichungsverordnung gestrichen.
6. Die Erpressung in der Nachkriegszeit
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Nach dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft wurden durch das Kontrollratsgesetz Nr. 1 bestimmte nationalsozialistische Strafgesetze aufgehoben. Die durch die Strafrechtsangleichungsverordnung von 1943 getroffenen Regelungen blieben jedoch in Kraft. Allerdings verbot die Kontrollratsproklamation Nr. 3 Ziff. II. 2 die Strafbegründung mit dem Verweis auf das „gesunde Volksempfinden“. In der Nachkriegszeit stellte sich daher bald die Frage, ob Verurteilungen auf den Tatbestand des § 253 RStGB in der Fassung von 1943 gestützt werden konnten, oder ob die Strafvorschrift durch die Gesetzgebung des Alliierten Kontrollrats (insgesamt) aufgehoben worden war. Ein Teil der Rechtsprechung nahm an, dass § 253 RStGB n.F. (bzw. der insoweit inhaltsgleiche § 240 RStGB n.F.) unwirksam seien, weil sie untrennbar mit typisch nationalsozialistischer Strafrechtssetzung verbunden waren.[39] Demgegenüber ging die überwiegende Anzahl der mit der Frage befassten Gerichte davon aus, dass die §§ 240, 253 RStGB n.F. zwar möglicherweise eine nationalsozialistische Diktion verwendeten, aber ihrer Weitergeltung keine durchgreifenden Bedenken entgegenstünden.[40] Eine vermittelnde Ansicht ging von der grundlegenden Fortgeltung der §§ 240 Abs. 1, 253 Abs. 1 RStGB aus, wollte aber den Absatz 2 jeweils unangewendet lassen bzw. durch das Merkmal der „guten Sitten“ oder durch eine allgemeine Rechtswidrigkeitsprüfung ersetzen.[41]
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Der BGH schloss sich dann der Ansicht derjenigen Obergerichte an, die eine unbeschränkte Fortgeltung des reformierten Erpressungstatbestandes befürworteten. Die Kontrollratsproklamation verbiete insoweit nur eine nationalsozialistische Interpretation des „gesunden Volksempfindens“, es sei dem Richter aber nicht verwehrt, bei der Einschränkung des Tatbestandes das Rechtsempfinden des Volkeszu berücksichtigen.[42] Durch das Dritte Strafrechtsänderungsgesetz vom 4. August 1953[43] wurde die sprachlich anstößige Formulierung des § 253 Abs. 2 StGB, den die Norm durch die Reform von 1943 erhalten hatte, dann aber endgültig beseitigt und der Tatbestand erhielt im Wesentlichen die heutige Fassung. Großen Einfluss auf die Erpressungsstrafbarkeit hatte in der Folgezeit dann insbesondere die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, nach der Streiksim Rahmen des Tarifvertragsrechts als rechtmäßig anzusehen waren.[44] Die Erpressung hatte damit ihre Funktion als Instrument zur Bekämpfung von Arbeitsniederlegungen eingebüßt. Zeitgleich setzte der Bundesminister der Justiz, Fritz Neumayer , die Große Strafrechtskommission ein, die umfassende Vorschläge zur Reform des deutschen Strafrechts erarbeitete, die im sog. E 1962gipfelten. Für das Recht der Erpressung sah der E 1962aber keine grundlegende Umgestaltung vor.
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Die früher in § 253 Abs. 1 S. 2 StGB vorgesehene Strafschärfung für (unbenannte) besonders schwere Fälle wurde durch das Verbrechensbekämpfungsgesetz von 1994 mit Regelbeispielen in Absatz 4 überführt.[45] Seit 1998 wird die genötigte Person nicht mehr als „anderer“, sondern als „Mensch“ bezeichnet.[46]
II. Kriminologische Bedeutung und Erscheinungsformen der Erpressung[47]
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Kennzeichnend für die Erpressung ist stets die zwingende Mitwirkung des Erpressungsopfers bei der Tat. Denn um den Taterfolg herbeizuführen, „muss“ (jedenfalls nach der hier vertretenen Ansicht[48]) das Opfer selbst die Vermögensverfügung vornehmen, also an der Tat mitwirken, und kann sich auf diese Weise „frei kaufen“.[49] Diese Mitwirkung ist dogmatisch mit der Rechtsfigur der notwendigen Teilnahmezu bewältigen. Dennoch steht man bei der Erpressung vor der Situation, dass die Vollendung der Straftat nur deshalb möglich ist, weil sich die potenziellen Opfer „unsolidarisch“ bzw. „egoistisch“ verhalten. Wäre klar, dass sich künftig niemand mehr einer Erpressung beugen würde, würde diese Kriminalitätsform rasch aussterben.[50] Auch Fälle des erpresserischen Menschenraubes blieben folgenlos und würden in der Folgezeit aufhören, wenn niemand die Opfer freikaufen würde. Weil eine konsequente Opfersolidarität dem betroffenen Individuum jedoch kaum zumutbar ist (und das einzelne Opfer zudem auf die Solidarität der anderen Opfer nicht ernsthaft vertrauen kann), lässt sich diese Einsicht praktisch nur bei einigen besonderen Opfern (Verkehrsbetriebe, Lebensmittelindustrie etc.) umsetzen. Dies gilt insbesondere auch für den Staat,[51] der sich – im Gegensatz zu Privatpersonen – nicht erpressen lassen „darf“.
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