1. Die Frage nach dem geschützten Rechtsgut
a) Zum Stand der Rechtsgüterlehre des 19. Jahrhunderts
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Außerordentlich umstritten zu dieser Zeit aber war der Begriff und die Funktion des „geschützten Rechtsguts“. Dogmengeschichtlich war die Wissenschaft des 19. Jahrhunderts zunehmend damit beschäftigt, den Begriff des Verbrechens abstrakt generell zu erfassen und die Grenzen legitimer Bestrafung auszuloten.[125] Hierbei nahm der Begriff des Rechtsguts eine Schlüsselstellung ein. Das, was der Staat legitimerweise mit Strafe belegen dürfe, sei, wie bereits zu einem früheren Zeitpunkt von Feuerbach formuliert, auf eine Rechtsverletzung beschränkt: „Verbrechen ist eine durch das Strafgesetz bedrohte dem Recht eines Anderen widersprechende Handlung“.[126] Dem widersprach Birnbaum ,[127] da das Recht weder vermindert noch entzogen werde, wenn der Gegenstand des Rechts, das Gut, vermindert oder entzogen wird.[128] Sonach gelte für die „Beziehung des in dem Verbrechensbegriff enthaltenen Merkmal der Verletzung “, dass dieser Begriff naturgemäß nicht auf den eines Rechts , sondern auf den eines Guts bezogen werden muss.[129] Birnbaum verstand unter strafbaren „Verbrechen“ eine dem Menschen zuzurechnende Verletzung oder Gefährdung eines Gutes, im Sinne eines körperlichen Gegenstandes (sog. Güterlehre/Schutzobjekttheorie).[130]
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Der Streit um diese Güterschutzlehre erreichte gegen Ende des 19. Jahrhunderts im Rahmen des sog. „Schulenstreits“ einen ersten Höhepunkt. Als Anhänger des Rechtspositivismus definierte Binding 1872 das Verbrechen als Verstoß gegen eine Norm. Schutzobjekt der Norm sei hierbei „alles, an dessen unveränderter und ungestörter Erhaltung das positive Recht ein Interesse hat, was deshalb durch seine Normen vor unerwünschter Verletzung oder Gefährdung zu sichern bestrebt ist.“[131] Geschützt werde nicht die Verletzung subjektiver Rechte, sondern die „Sicherstellung sämtlicher Bedingungen eines gesunden Rechtslebens, in welchem der Friede ungestört walte“.[132] Erst durch die Rechtsnorm werde ein Gegenstand zum Rechtsgut.[133] Der Begriff des Rechtsguts wurde zum zentralen Begriff in der Verbrechenslehre des Positivismus.[134] Dennoch war auch die Rechtsgüterlehre Bindings nicht geeignet, dem Gesetzgeber einen vorgelagerten Maßstab vorzugeben und damit die Grenzen eines legitimen Verbrechensbegriffs zu definieren. Da das Rechtsgut durch die Bildung eines Straftatbestandes und damit durch den Gesetzgeber selbst erschaffen wurde, hatte der Gesetzgeber die Macht, sich seine Grenzen selbst zu ziehen. Noch heute wird der Schlussfolgerung Bindings deshalb Zirkularität vorgeworfen.[135]
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Eine breite Strömung in der Strafrechtswissenschaft begann diese klassische (positivistische) Schule zu kritisieren und die Frage nach dem Sinn und Zweck der Norm in den Mittelpunkt der Erörterungen über das Wesen eines Delikts zu stellen.[136] Vornehmlich Liszt und Ihering (Marburger Schule) lösten den Schulenstreit aus, da sie sich auch im Hinblick auf andere Fragen, nicht mit dem rein positivistischen Ansatz begnügten.[137] Die sog. „moderne Schule“ ernannte sodann die Ausrichtung am Zweckgedanken als oberstes Prinzip im Strafrecht.[138] Ihering stellte darauf ab, dass allein der Zweck „der Schöpfer des Rechts“ sei.[139] Nach der Ansicht von Liszt enthalte das Verbrechen etwas „Reales“ und etwas „Vergeistigtes“: Real sind Handlung und die dadurch (kausal) verursachte Veränderung des Handlungsobjekts (im Sinne eines Gegenstandes) der Außenwelt.[140] Das Handlungsobjekt müsse hierbei strikt vom Rechtsgut getrennt werden. Im Hinblick auf das Rechtsgut sei eine kausale Verletzung nicht möglich, weil das Rechtsgut kein Ding, sondern ein Begriff sei.[141] Von Verletzung oder Gefährdung eines Rechtsguts könne nur im übertragenen Sinne gesprochen werden (sog. vergeistigter Rechtsgutsbegriff), „jedes Rechtsgut verkörpere sich in einem Ding“.[142] Die Notwendigkeit einer Trennung von Rechtsgut und Angriffsobjekt wurde zunehmend gemeinsamer dogmatischer Nenner, wobei der Kern materiellen Unrechts noch immer wenig konkretisiert war.[143]
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Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war nicht nur die Definition des Begriffs Rechtsgut, sondern auch seine Stellung in der Verbrechenslehre und seine Bedeutung für die Praxis unklar.[144] Einigkeit bestand nur insofern, als dass auf dieses Konstrukt offenbar nicht verzichtet werden konnte.[145] Dennoch sorgte die bis dahin sehr vage Rechtsgüterlehre für Verwirrung und Unklarheit.[146] Aus heutiger Sicht kann die Rechtsgüterlehre zwar als eine der ersten „dogmatischen Früchte der freiheitlich-reformoptimistischen Epoche“[147] der Aufklärung bezeichnet werden, stand aber gleichzeitig im frühen Geltungszeitraum der Konkursordnung (1877-1920) noch in ihren Anfängen. Der dogmatische Ertrag der Rechtsgüterlehre, was Inhalt und Funktion des Rechtsguts in der Verbrechenslehre angeht, war gering.[148] Obgleich eine Definition fehlte, wurde das Rechtsgut zum Dreh- und Angelpunkt wissenschaftlicher Auslegung und auch entscheidendes Auslegungskriterium der Konkursstrafbestimmungen. Konsens im Hinblick auf eine allgemeine Verbrechenslehre bestand insofern, als dass ein strafbares Verbrechen jedenfalls ein Subjekt voraussetzt, das seinerseits ein (wie auch immer ausgestaltetes) Objekt positiv bewertet und damit zu seinem Gut erhebt, welches vom Täter (irgendwie) angegriffen wird.[149]
b) Das geschützte Rechtsgut der Konkursdelikte
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Angesichts der Tatsache, dass der Begriff des Rechtsguts weder definiert noch in seiner Funktion bestimmt war, ist kaum verwunderlich, dass das Meinungsspektrum zum Rechtsgut der Konkursdelikte außerordentlich vielfältig war.[150] Gemeinsamer Ausgangspunkt war die Erkenntnis, dass die Norm an den eigenen Konkurseintritt des Schuldners anknüpft („...indem er seine Zahlungen einstellt, oder über sein Vermögen...“). Daher war Gegenstand einer breiten Diskussion, welchen Schutz Dritter der Gesetzgeber mit der Schaffung der Norm bezweckt haben könnte. Die überwiegende Ansicht sah das „geschützte Rechtsgut“ im Rahmen des Bankrotts, akzessorisch zur Konkursordnung, im „vermögensrechtlichen Schutz der vom Konkurs betroffenen Gläubiger“.[151] Geschützt werde also das „Vermögen der Gläubiger“.[152] Da das Vermögen jedoch ein bloßer Sammelbegriff sei, müsse näher konkretisiert werden, aus welchen schützenswerten Bestandteilen, Positionen und Zuständen sich der Begriff des Vermögens zusammensetze.[153] Die Einzelauffassungen hierzu reichen vom Vermögen in Gestalt der „Gläubigerforderungen“, über die „einzelnen Forderungsrechte“ der Gläubiger[154], bis hin zum „materiellen Befriedigungsrecht“ der Gläubigerschaft[155] oder aber den „fremden Vermögensrechten insgesamt“.[156]
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Vermehrt wurde, in Anlehnung an Birnbaum, darauf hingewiesen, dass „das Recht“ der Gläubiger auf Erfüllung einer Forderung durch ihre Nichterfüllung nicht berührt werde.[157] Das geschützte Rechtsgut sei daher die den Forderungsrechten als Grundlage dienenden „Forderungen selbst“, und damit sämtliche Forderungen im wirtschaftlichen Sinne.[158] Andere vertraten mit Liszt ,[159] dass das geschützte Rechtsgut „Interessen“ natürlicher Personen seien. Interesse sei hierbei „der Wert, den der Eintritt oder Nichteintritt einer Veränderung in der Außenwelt hat“. Für den Bankrott bedeutete dies, dass der Bankrotteur die „Aussicht der Gläubiger auf Befriedigung ihrer Forderungen“ verletze,[160] das geschützte Rechtsgut also die materiellen „ Befriedigungsinteressen “ der Gläubiger seien.[161] Nur deshalb sei auch das Vernichten der Bücher mit Strafe bedroht, da die Gläubiger sich dann die „für die Wahrung ihrer Forderungen notwendige Kenntnis nicht beschaffen können.“[162] Ausgehend von diesen diversen Interpretationen des geschützten Rechtsguts ordneten die Vertreter die Tatbestandsmerkmale des Bankrotts neu. Fraglich war nunmehr, worin der Angriff des Täters auf dieses Rechtsgut lag, was also gleichsam das Unrecht der Bankrotttat ausmachte.
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