2. Verfahren vor dem Gerichtshof
Streitige Verfahren vor dem Gerichtshof können nur von der IAMRK, im Ergebnis einer Individualbeschwerde, oder von einem Vertragsstaat eingeleitet werden (Art. 61 AMRK). Voraussetzung ist in jedem Fall, dass der betroffene und ggf. der beschwerdeführende Staat die Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs anerkannt hat. Mit der Vorlage eines Falls wird die IAMRK vom unabhängigen Mediator und Entscheidungsgremium zur Partei. Der Beschwerdeführer ist hingegen nicht Partei; er kann weder die Sache nach eigenem Ermessen weiterverfolgen noch unmittelbar Beschwerde beim Gerichtshof einlegen. Opfer der behaupteten Verletzungen sind einem Verfahrensbeteiligten weitgehend gleichgestellt. Insbesondere können sie eigenständig auftreten und, bei Bindung an den Tatsachenvortrag der IAMRK, eine abweichende rechtliche Strategie verfolgen. Der Gerichtshof stellt den Sachverhalt selbst fest und erhebt die nötigen Beweise; an die Tatsachenfeststellung der IAMRK ist er nicht gebunden.
Maßstab für die Prüfung der Individual- und Staatenbeschwerden durch den Gerichtshof sind die AMRK und gem. deren Art. 77 solche Verträge, die dem Gerichtshof bestimmte Zuständigkeiten übertragen, namentlich das Protokoll von San Salvador hinsichtlich der Koalitionsfreiheit in dessen Art. 8 und des Rechts auf Bildung in dessen Art. 13 (siehe Art. 19 Abs. 6 des Protokolls). Der Gerichtshof hat in gleicher Weise die Bestimmungen der Interamerikanischen Konvention zur Verhütung und Bestrafung von Folter vom 9.12.1985 und der Interamerikanischen Konvention über gewaltsames Verschwindenlassen von Personen vom 9.6.1994 angewendet, obwohl diese ausdrücklich nur die Zuständigkeit der IAMRK erwähnen. Bei der Auslegung stützt sich der Gerichtshof ergänzend auf sonstige menschenrechtliche Standards und solche des humanitären Völkerrechts.
Stellt der Gerichtshof eine Verletzung fest, so kann er weitgehende Rechtsfolgen anordnen, insbesondere Schadensersatz für Vermögens- und Nichtvermögensschäden, Wiedergutmachung und Folgenbeseitigung jeglicher Art. Die Urteile sind bindend. Die Überwachung der Urteilsumsetzung und -vollstreckung ist nicht institutionalisiert; der Gerichtshof überwacht die Befolgung seiner Urteile selbst. Er kann die Nichtumsetzung eines Urteils in seinem jährlichen Bericht an die OAS-Generalversammlung rügen (Art. 65 AMRK).
In schwerwiegenden und dringenden Fällen kann der Gerichtshof einstweiligen Rechtsschutz gewähren (Art. 63 Abs. 2 AMRK), und zwar – auf Antrag der IAMRK – auch in Bezug auf Fälle, die noch nicht bei ihm anhängig sind. Die Anordnungen sind bindend. Auch hier ist Voraussetzung, dass der betroffene Staat die Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs anerkannt hat.
Schließlich kann der Gerichtshof Gutachten erstellen, die ein Mitgliedstaat – unabhängig von einer Unterwerfungserklärung – oder eines der Organe der OAS innerhalb seines Zuständigkeitsbereichs anfordern kann (Art. 64 AMRK). Gutachten können in Bezug auf die Auslegung der AMRK, zur Vereinbarkeit des nationalen Rechts mit der AMRK, oder bzgl. der Auslegung sonstiger Verträge zum Schutz der Menschenrechte in den amerikanischen Staaten eingeholt werden. Der Gerichtshof interpretiert diese Zuständigkeit sehr weit: als jeden Vertrag umfassend, der von einem Mitgliedstaat ratifiziert worden ist und Individual- oder Menschenrechte betrifft.
Die AMRK und ihr Schutzsystem haben einen wichtigen Beitrag nicht nur zur Förderung und Durchsetzung der Menschenrechte, sondern auch zur Entwicklung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Süd- und Mittelamerika geleistet. Die Schwierigkeiten, mit denen die Region zu kämpfen hat, vor allem Armut, soziale Segregation, Diktaturen, häufige politische Unruhen und allgemein die Probleme der rechtsstaatlichen Institutionen, spiegeln sich in der Rechtsprechung wider. Die wichtigsten Themenkomplexe, mit denen sich Gerichtshof und Kommission vor allem in den ersten zwei Jahrzehnten ihres Bestehens befassten, waren das gewaltsame Verschwindenlassen, bewaffnete Konflikte, Verfahren vor Militärgerichten und Straflosigkeit. Immer noch von großer Bedeutung sind Verfahren betreffend die Tätigkeit von Vollstreckungsorganen, bzgl. der Haftbedingungen sowie solche hinsichtlich der Rechte indigener Völker. Immer wieder haben Kommission und Gerichtshof den besonderen Charakter der AMRK als menschenrechtlicher Vertrag und den Grundsatz des effet utile betont, und damit auch eine extensive Auslegung begründet. Damit hat die Rechtsprechung insbesondere des Gerichtshofs Anstoß für die Weiterentwicklung der Rechtsprechung und des Menschenrechtsstandards in den Mitgliedstaaten der OAS und darüber hinaus gegeben.
Institutionell lässt sich in gleicher Weise ein Entwicklungsprozess erkennen. Lag der Arbeitsschwerpunkt der IAMRK in den ersten Jahren auf dem direkten Kontakt mit den Mitgliedstaaten, den sie vor allem durch Vor-Ort-Besuche und die Berichtstätigkeit ausübte, so stellt heute die Bearbeitung der Individualbeschwerden einen immer größer werdenden Teil ihrer Tätigkeit dar. Angesichts der beschränkten personellen und finanziellen Ressourcen und der steigenden Zahl von Beschwerden – 2010 gingen 1598 Beschwerden bei der IAMRK ein, eine Verdreifachung gegenüber 1997 – gerät das System an seine Grenzen, mit entsprechenden Auswirkungen auf die Verfahrensdauer. Für den Gerichtshof gilt ähnliches.
Kritisch beurteilt wird noch immer, dass der Individualbeschwerdeführer keinen direkten Zugang zum Gerichtshof hat, sondern dies eine stattgebende Entscheidung der IAMRK voraussetzt. Praktisch bedeutet dies jedoch eine nur geringe Einschränkung der Effektivität des Rechtsschutzes. Nur Fälle, die die IAMRK für unzulässig oder unbegründet erklärt hat, erreichen den Gerichtshof nicht und unterliegen auch sonst keiner weiteren Behandlung. Insoweit kann die IAMRK noch immer den Zugang zum Gerichtshof beschränken. Die Maßnahmen der letzten Jahrzehnte, namentlich der weitestgehend faktische Automatismus der Vorlage an den Gerichtshof seit 2001, haben hier Abhilfe geschaffen. Reformbestrebungen hinsichtlich einer Abschaffung dieser Zweistufigkeit und zur Steigerung der Effizienz der Konventionsorgane bestehen im Übrigen weiterhin.
A› Anerkennung (Marten Breuer)
Anerkennung (Marten Breuer)
I. Allgemeines
II. Definition
III. Anerkennung von Staaten
IV. Anerkennung von Regierungen
V. Anerkennung Internationaler Organisationen
Lit.:
R.L. Bindschedler , Die Anerkennung im Völkerrecht, AVR, 1951/52, 377; M. Breuer , Die Völkerrechtspersönlichkeit Internationaler Organisationen, AVR, 2011, 4; A. Hillgruber , Die Aufnahme neuer Staaten in die Völkerrechtsgemeinschaft, 1997; U. Saxer , Die internationale Steuerung der Selbstbestimmung und der Staatsentstehung, 2010; S. Talmon , Kollektive Nichtanerkennung illegaler Staaten, 2006.
Dem Völkerrecht fehlt es aufgrund seines Charakters als dezentrale Rechtsordnung an einer zentralen Rechtsdurchsetzungsinstanz. Auch der → IGH, wiewohl Hauptrechtsprechungsorgan der → Vereinten Nationen(Art. 92 UN-Ch.), vermag aufgrund des Erfordernisses einer gesonderten Unterwerfung unter seine Gerichtsbarkeit (Art. 36 IGH-Statut) diese Rolle nicht auszufüllen. Sofern nicht auf völkervertraglicher Grundlage spezielle Rechtsdurchsetzungsmechanismen geschaffen worden sind, liegt die Durchsetzung von Rechtsansprüchen daher nach wie vor in den Händen der → Staaten selbst. In diesem Zusammenhang ist die Anerkennung ein wichtiges Instrument, da durch sie streitige oder zumindest unklare Rechtsverhältnisse außer Streit gestellt werden können. Hauptanwendungsfälle sind die Anerkennung von Staaten, von Regierungen und von → Internationalen Organisationen. Darüber hinaus können aber auch Grenzen, Ansprüche, Aufständische, Kriegführende usw. anerkannt werden.
Читать дальше