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Für ablehnende Gnadenentscheidungensoll Art. 19 Abs. 4 GG nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht gelten, da das Begnadigungsrecht gemäß Art. 60 Abs. 2 GG lediglich eine Befugnis begründe, dort helfend und korrigierend einzugreifen, wo die Möglichkeiten des formalisierten Gerichtsverfahrens nicht genügten.[235] Demgegenüber betonen Teile des Schrifttums, dass eine Gnadenentscheidung nicht von der Möglichkeit einer gerichtlichen Überprüfung ausgenommen sei, da Art. 19 Abs. 4 GG auf alle Hoheitsakte exekutiver Natur Anwendung finde.[236] Allerdings beschränke sich die gerichtliche Kontrolle von Gnadenentscheidungen auf eine Verfahrens- und Willkürprüfung.[237]
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C. Justizgrundrechte als besondere verfassungsrechtliche Einzelgarantien
I. Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG)
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Das in Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG verbriefte Recht auf den gesetzlichen Richter soll die Bestimmtheit und die Vorhersehbarkeit des zuständigen Richtersgarantieren und „der Gefahr vorbeugen, dass die Justiz durch Manipulation der rechtsprechenden Organe sachfremden Einflüssen ausgesetzt wird“.[238] Dabei ist unerheblich, von welcher Seite die Manipulation ausgeht; die Vorschrift richtet sich sowohl an die Gesetzgebung und die Verwaltung als auch an die Rechtsprechung selbst.[239] Insgesamt will die Garantie des gesetzlichen Richters als besondere Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips die Unabhängigkeit der Rechtsprechung wahren und das Vertrauen in die Unparteilichkeit und Sachlichkeit der Gerichte sichern.[240] Insoweit steht Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG in enger Verbindung mit der richterlichen Unabhängigkeit nach Art. 97 GG, die für alle staatlichen Gerichte gilt und einen unverzichtbaren Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips bildet.[241] Außerdem folgt aus dem Recht auf den gesetzlichen Richter das Verbot von Ausnahmegerichten, also solcher Gerichte, die in Abweichung von der gesetzlichen Zuständigkeit besonders gebildet und zur Entscheidung individueller Fälle berufen sind (Art. 101 Abs. 1 S. 1 GG).[242] Ferner ergibt sich aus der Norm das Erfordernis, Gerichte für besondere Sachgebiete gesetzlich zu errichten (Art. 101 Abs. 2 GG).
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Gesetzlicher Richteri.S.d. Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG sind das Gericht als organisatorische Einheit oder das erkennende Gericht als Spruchkörper und die zu Entscheidung im Einzelfall berufenen Richter.[243] Die Bestimmung des Richters muss sich von vornherein möglichst eindeutig aus einem Parlamentsgesetz ergeben.[244] Hinzutreten müssen Geschäftsverteilungspläne der Gerichte, die im Vorhinein eine abstrakt-generelle Zuständigkeitsregelung im Rahmen des gesetzlich vorgesehenen Rahmens treffen und Spielräume möglichst vermeiden.[245] Besetzungsfehler stellen deshalb einen absoluten Revisionsgrund i.S.d. § 338 Nr. 1 StPO dar.
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Im Blick auf den grundrechtsähnlichen Charakter des Rechts auf den gesetzlichen Richter müssen die fundamentalen Zuständigkeitsregeln durch förmliches Gesetz erlassen werden.[246] Bei grundrechtsrelevanten Regelungen muss der Gesetzgeber nach der Wesentlichkeitstheorie die wesentlichen Entscheidungen selbst treffen und darf sie nicht anderen Gewalten, etwa den Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichten, überlassen.[247] Daher begegnen die sog. beweglichen Gerichtsstände im Strafprozess(z.B. § 24 Abs. 1 Nr. 3, § 74 Abs. 1 S. 2 GVG) – entgegen der Ansicht des Bundesverfassungsgerichts[248] – verfassungsrechtlichen Bedenken, da sie der Staatsanwaltschaft die Möglichkeit eröffnen, unter mehreren zuständigen Gerichten zu wählen. Dies gilt jedenfalls dann, wenn das Gesetz der Anklagebehörde ein echtes Wahlrecht (Ermessen) bei Vorliegen mehrerer zuständiger Gerichte einräumt, in denen die Gerichtsstände des Tatorts, des Wohnsitzes oder Aufenthaltsortes und des Ergreifungsortes gleichwertig nebeneinanderstehen und das Gesetz keine Kriterien für die Ermessensentscheidungen enthält.[249] Freilich begründet nicht schon jeder error in procedendo, sondern lediglich eine willkürlich unrichtige Anwendung der Zuständigkeits- und Verfahrensregeln einen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG.[250]
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Auch Ausschließung und Ablehnung von Gerichtspersonenaus Gründen der Befangenheit zählen zu den Ausprägungen von Art. 97 und Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG;[251] sie sind einfachgesetzlich in §§ 22 ff. StPO niedergelegt. Sämtlichen Vorschriften liegt der Gedanke zugrunde, dass ein Richter (Berufs- oder Laienrichter), gegen dessen Unvoreingenommenheit in einem bestimmten Verfahren Bedenken bestehen, im Interesse der Prozessbeteiligten wie auch zur Erhaltung des Vertrauens in die Unparteilichkeit der Rechtspflege in diesem Verfahren keine Entscheidungen treffen darf.[252]
II. Verbot der Todesstrafe (Art. 102 GG)
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Das Verbot der Todesstrafe nach Art. 102 GG steht in engem Zusammenhang mit Art. 1 Abs. 1 GG sowie mit der Regelung des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG, nach der die Menschenwürdesowie das Recht auf Leben grundsätzlich gewahrt sein müssen.[253] Da eine humane und würdevolle Form der Ausführung der Todesstrafe nicht ersichtlich ist, darf Art. 102 GG schon wegen Art. 79 Abs. 3 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG nicht aufgehoben werden.[254] Bei der Todesstrafe handelt es sich um ein „schlechterdings unzumutbares und unerträgliches Unterfangen“,[255] das einer Abstumpfung und Verrohung der Gesellschaft Vorschub leistet. Deshalb steht keinem zivilisierten und der Humanität verpflichteten Staat das Recht zu, über das Leben des Einzelnen durch Strafsanktion zu verfügen. Darüber hinaus steht das Rechtsstaatsprinzip einer Strafe entgegen, deren Vollstreckung bei nachträglich festgestellter Unrechtmäßigkeit nicht mehr reversibel ist.[256] In der Praxis entfaltet die Wertung des Art. 102 GG vor allem im Auslieferungsrecht und im Rechtshilfeverkehr Bedeutung.[257]
III. Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG)
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Das grundrechtsgleiche Recht des Art. 103 Abs. 1 GG garantiert jedem Beteiligten an einem gerichtlichen Verfahren das rechtliche Gehör und steht in funktionalem Zusammenhang mit der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG.[258] Während diese den Zugang zum Gericht sichert, zielt Art. 103 Abs. 1 GG auf einen angemessenen Ablauf des gerichtlichen Verfahrens.[259] Außerdem ist die Regelung des Art. 103 Abs. 1 GG wesentlicher Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips[260] und eine Ausprägung des Menschenwürdeschutzes und stellt in den Worten des Bundesverfassungsgerichts das „ prozessuale Urrecht“ des Menschen dar.[261] Der einzelne Verfahrensbeteiligte soll nicht bloßes Objekt des Prozesses sein, sondern als aktiv handelnde Person am Verfahren teilnehmen und sein Recht durchsetzen oder verteidigen können.[262] In diesem Sinne enthält Art. 103 Abs. 1 GG über seinen abwehrrechtlichen Gehalt hinaus ein Teilhabe- und Leistungsrecht,[263] das grundrechtliche Schutzpflichten der judikativen Staatsgewalt ebenso einschließt wie an den Gesetzgeber gerichtete organisationsrechtliche Gehalte.[264] Flankiert wird Art. 103 Abs. 1 GG von Art. 6 Abs. 1, 3 EMRK, der die herausragende Bedeutung der Anhörungsrechte für die Gestaltung und Durchführung eines fairen Prozesses hervorhebt.[265]
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Im Strafprozess entfaltet der Anspruch auf rechtliches Gehör besondere Bedeutung.[266] Er besteht nur vor Gericht, nicht aber im staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren; dort folgen Anhörungspflichten aber aus dem Rechtsstaatsprinzip.[267] Nach Maßgabe des Art. 103 Abs. 1 GG dürfen einer gerichtlichen Entscheidung nur solche Tatsachen und Beweisergebnisse zu Grunde gelegt werden, zu denen Stellung zu nehmen den Beteiligten zuvor hinreichende Gelegenheit gegeben war.[268] Gehörsberechtigtsind daher zum einen diejenigen, denen die einfachgesetzlichen Verfahrensvorschriften die formale Stellung eines Beteiligten einräumen.[269] Dazu zählen im Strafverfahren nicht nur Beschuldigte und Angeklagte, sondern auch Nebenkläger.[270] Zum anderen sind die von einer gerichtlichen Entscheidung unmittelbar rechtlich Betroffenen anhörungsberechtigt, also diejenigen, die durch den Verfahrensausgang eine „unmittelbare Beeinträchtigung in eigenen Rechten“ erleiden können,[271] wie etwa der Beschuldigte im Klageerzwingungsverfahren nach §§ 172 ff. StPO.[272] Nicht aber erstreckt sich das Gehörsrecht auf Zeugen und Sachverständige[273] und auch nicht auf den Staatsanwalt.[274] In der Sache realisiert sich der Schutz des Art. 103 Abs. 1 GG in drei Stufen, nämlich der ausreichenden Information des Betroffenen, seinem Äußerungsrecht und der Berücksichtigungspflicht des Gerichts.[275]
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