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Gleichwohl fordert das Gesetzlichkeitsprinzip nicht, dass eine einzige gesetzliche Strafnorm Tatbestand und Rechtsfolge vollständig selbst regeln müsste. Zur Konkretisierung darf auf andere Rechtsakte verwiesen werden (sog. Blankettstrafgesetze).[318] Wird der Straftatbestand durch ein anderes förmliches Gesetz ergänzt, ist den Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG genügt, wenn unmissverständlich klar ist, auf welche ausfüllende Norm verwiesen wird und die Voraussetzungen der Strafbarkeit hinreichend deutlich umschrieben sind.[319] Ergänzende Regelungen dürfen sogar durch administrative Rechtsetzungsakte getroffen werden.[320] So können Rechtsverordnungen, die sich im Rahmen von gültigen Ermächtigungen nach Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG halten, die Strafbarkeit begründen oder verschärfen.[321] Allerdings muss dann die Ermächtigung zur Strafandrohung durch Verordnung so genau umschrieben sein, dass die Voraussetzung der Strafbarkeit sowie Art und Maß der Strafe für den Bürger schon aus der gesetzlichen Ermächtigung und nicht erst aus der auf sie gestützten Verordnung entnommen werden können.[322] Dem Verordnungsgeber dürfen nur gewisse Spezifizierungen des Straftatbestandes überlassen werden, wobei der Gesetzgeber die Strafbarkeitsvoraussetzungen umso präziser bestimmen muss, je schwerer die angedrohte Strafe ist.[323]
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Ausnahmsweise können Blanketttatbestände sogar mit Art. 103 Abs. 2 GG vereinbar sein, wenn sie erst durch Verwaltungsvorschriftenausgefüllt werden.[324] Auch hier gilt aber, dass sich die Voraussetzungen der Strafbarkeit sowie Art und Maß der Sanktion bereits aus dem Blankettgesetz mit hinreichender Deutlichkeit ablesen lassen müssen;[325] außerdem muss das Gesetz bezüglich der Ausfüllung auf die sog. „normkonkretisierende Verwaltungsvorschrift“ exakt verweisen.[326] Da das Risiko einer Bestrafung für den Normadressaten vorhersehbar sein muss, kommen für die Ausfüllung zudem nur solche Verwaltungsvorschriften in Betracht, die förmlich publiziert und leicht zugänglich sind.[327] In ähnlicher Weise kann ein Strafgesetz ohne Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG darauf angelegt sein, durch Verwaltungsakteausgefüllt zu werden.[328] In einem solchen Fall hat das Gesetz Typus und Regelungsumfang des Verwaltungsaktes jedoch so weit festzulegen, wie der Verstoß gegen die entsprechende Verhaltenspflicht strafbewehrt sein soll. Darüber hinaus muss der die gesetzliche Regelung ausfüllende Verwaltungsakt in seinem konkreten Regelungsgehalt hinreichend bestimmt, also ohne Entscheidungsermessen der Erlassbehörde, sowie bestandskräftig sein.[329]
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Da Art. 103 Abs. 2 GG den Grundsatz der Gesetzesgebundenheit im Strafrecht etabliert, ist die gewohnheitsrechtliche Strafbegründung oder Strafverschärfung verboten.[330] Das Prinzip der Gesetzesgebundenheit bezieht sich jedoch nur auf das materielle Strafrecht i.S. der Strafandrohung,[331] bedeutet aber kein allgemeines Verbot des Gewohnheitsrechts.[332] Denkbar ist daher etwa, dass ein Strafgesetz durch stete Nichtanwendung, die sich auf eine neu gebildete Rechtsüberzeugung stützt, ungültig wird (sog. desuetudo); dann ist der Schutzbereich von Art. 103 Abs. 2 GG von vornherein nicht berührt.[333] Soweit sich Normen des Allgemeinen Teils des StGB gewohnheitsrechtlich, etwa im Wege einer Wandlung der Strafrechtsdogmatik, modifizieren, ist dies dann mit Art. 103 Abs. 2 GG vereinbar, wenn diese Veränderung nicht zu einer Vermehrung des denkbaren strafrechtswidrigen Verhaltens führt.[334] Auch gesetzliche Verweisungen auf gewohnheitsrechtlich anerkanntes Völkerstrafrecht können unter eng gefassten Umständen mit Art. 103 Abs. 2 GG vereinbar sein.[335]
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Blankettstrafgesetze dürfen schließlich auf unmittelbar geltendes Unionssekundärrechtverweisen. Dies ist jedenfalls dann unproblematisch, wenn etwa eine EU-Verordnung nur Verhaltenspflichten festlegt, deren strafrechtliche Sanktionierung erst durch ein deutsches Blankettgesetz erfolgt.[336] In entsprechender Weise ist es zulässig, dass der Gesetzgeber zur Ausfüllung von Blanketttatbeständen auf internationale Akteverweist, denen er gemäß Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG den Rechtsanwendungsbefehl erteilt hat. Hierfür gelten die gleichen Maßstäbe wie bei innerstaatlichen Verweisungen; die Konkretisierungen auf internationaler Ebene sind im Regelfall nicht weniger bestimmt als im innerstaatlichen Bereich.[337]
2. Bestimmtheitsgebot (nulla poena sine lege certa)
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Als spezielle Ausgestaltung des allgemeinen Bestimmtheitsgrundsatzes (Art. 20 Abs. 3 GG) gebietet Art. 103 Abs. 2 GG die gesetzliche Bestimmtheit der Strafbarkeit und stellt insoweit höhere Anforderungen.[338] Wegen seiner freiheitsgewährleistenden Funktion verpflichtet das strafrechtliche Bestimmtheitsgebot den Gesetzgeber, die Voraussetzungen der Strafbarkeitso genau zu umschreiben, dass Tragweite und Anwendungsbereich der Straftatbestände schon aus dem Gesetz selbst zu erkennen sind und sich durch Auslegung ermitteln und konkretisieren lassen.[339] Jedermann soll voraussehen können, welches Verhalten verboten und mit Strafe bedroht ist, damit er sein Tun oder Unterlassen auf die Strafrechtslage eigenverantwortlich einrichten kann und willkürliche staatliche Reaktionen nicht befürchten muss.[340]
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Das Gebot der Bestimmtheit des Gesetzes darf allerdings nicht übersteigert werden. Insbesondere im Blick auf das Nebenstrafrecht legt das Bundesverfassungsgericht einen vergleichsweise großzügigen Maßstab an die Bestimmtheit an.[341] Aber auch darüber hinaus schließt Art. 103 Abs. 2 GG nicht aus, dass in Grenzfällen zweifelhaft sein kann, ob ein Verhalten schon oder noch unter den gesetzlichen Tatbestand fällt.[342] Ein gewisses Maß an Abstraktionlässt sich bei Rechtsnormen, die notwendigerweise typisieren, nicht vermeiden. Ansonsten würden Gesetze zu starr und kasuistisch und der Vielgestaltigkeit des Lebens und dem Wandel der Verhältnisse nicht gerecht.[343] Selbst gesetzliche „Randunschärfen“ gelten nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als unvermeidbar.[344] Nur in Ausnahmefällen hat das Bundesverfassungsgericht ausgesprochen, dass eine Vorschrift so exakt formuliert sein muss, dass dem Einzelnen „die Grenze des straffreien Raums klar vor Augen steht“.[345]
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Auch Generalklauselnoder unbestimmte, wertausfüllungsbedürftige Begriffe sind verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn die Norm mit Hilfe der üblichen Auslegungsmethoden eine zuverlässige Grundlage für ihre Auslegung und Anwendung bietet oder wenn sie eine gefestigte Rechtsprechung übernimmt und daraus eine hinreichende Bestimmtheit entwickelt.[346] Zum Beispiel werden die Voraussetzungen des unechten Unterlassungsdelikts gemäß § 13 StGB und die von der Rechtsprechung hierzu vorgenommene Umschreibung möglicher Garantenstellungen als verfassungskonform erachtet.[347] Hinsichtlich der Auslegungsmethoden kommt allerdings im Strafrecht der grammatischen Auslegungeine herausgehobene Bedeutung zu. Der mögliche Wortsinn einer Vorschrift zieht der Auslegung eine Grenze, die unübersteigbar ist.[348] Für den Normadressaten muss wenigstens das Risiko einer Bestrafung erkennbar sein.[349] Dabei ist in erster Linie der verstehbare Wortlaut des gesetzlichen Tatbestandes, also die Sicht des Bürgers maßgebend.[350] Insgesamt muss die Strafnorm umso präziser sein, je schwerer die angedrohte Strafe ist.[351] Nach bundesverfassungsgerichtlicher Judikatur sind daher an strafbarkeitsbegründende Merkmale höhere Bestimmtheitsanforderungen zu stellen als an „tatbestandsregulierende Korrektive“, die sich zugunsten des Täters auswirken.[352] Die Berücksichtigung ungeschriebener Tatbestandsmerkmale, wie etwa die „Vermögensverschiebung“ beim Betrug nach § 263 StGB, ohne die der objektive Tatbestand wesentlich extensiver wäre, ist deshalb kein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG.[353]
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