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Angesichts gestiegener Mobilität ist ferner ein steigender praktischer Einfluss des Völkerrechtsauf die verfassungsrechtliche Konturierung der deutschen Strafgewalt zu konstatieren. Zum einen werden seit alters her bestimmte Personen von der deutschen Gerichtsbarkeit befreit, auch wenn sie sich auf dem Staatsgebiet befinden. Diese Exemtionengründen sich sowohl auf die über Art. 25 GG verbindlichen allgemeinen Regeln des Völkerrechts als auch auf die beiden Wiener Übereinkommen über diplomatische bzw. konsularische Beziehungen,[44] die gemäß Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG im Rang eines Bundesgesetzes stehen. §§ 18 bis 20 GVG greifen die völkerrechtlichen Immunitätsvorgaben einfachgesetzlich auf. Zum anderen erstreckt sich der räumliche Geltungsbereich des deutschen Strafrechts auf Sachverhalte mit Auslandsberührung (vgl. §§ 3–7 StGB). Bei diesen Vorschriften des sog. „ Internationalen Strafrechts“ handelt es sich zwar lediglich um die extraterritoriale Anwendung des innerstaatlichen Rechts, das selbst keinen völkerrechtlichen Ursprung hat.[45] Im Blick auf das völkerrechtliche Einmischungsverbot (vgl. Art. 2 Ziff. 1, 7 UN-Charta) ist eine extraterritoriale Erstreckung des nationalen Strafanspruchs aber nur so lange und so weit unproblematisch, wie ein legitimer Anknüpfungspunkt zum deutschen Staat besteht.[46] Genuine völkerrechtliche Vorgaben sind schließlich dem Völkerstrafrechtzu entnehmen, dessen Entwicklung mit dem Statut des Internationalen Militärgerichtshofs von Nürnberg begann,[47] über die vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen ad hoc eingesetzten Internationalen Strafgerichtshöfe für das ehemalige Jugoslawien[48] und für Ruanda[49] weiterentwickelt wurde und heute im Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs[50] seinen vertraglichen Niederschlag findet. Den völkerrechtlichen Regelungen zur Begründung einer internationalen Strafgerichtsbarkeit, die mit der Ahndung schwerwiegender völkerrechtlicher Verbrechen (insbesondere Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen) betraut ist, steht auf nationaler Ebene das deutsche Völkerstrafgesetzbuch[51] gegenüber. Es fokussiert dieselben Verbrechen, etabliert aber über den Weg des Weltrechtsprinzips eine Jurisdiktion der deutschen Strafgerichtsbarkeit.[52] Verflechtungen zwischen innerstaatlicher und völkerrechtlicher Rechtsordnung treten dadurch auf, dass zum einen die nationalen Stellen mit dem Gerichtshof zur Zusammenarbeit verpflichtet sind,[53] und zum anderen ein Verfahren vor dem Internationalen Strafgerichtshof nach dem Komplementaritätsgrundsatz des Art. 17 IStGH-Statut nur zulässig ist, wenn die staatliche Strafgerichtsbarkeit nicht tätig wird.
III. Normenhierarchie und Gewaltenverschränkung
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Ungeachtet der inzwischen nicht mehr zu übersehenden europa- und völkerrechtlichen Implikationen richtet sich der Auftrag zur Konkretisierung der verfassungsrechtlichen Garantien im Strafrecht freilich nach wie vor zuvörderst an den durch Volkswahl unmittelbar demokratisch legitimierten Gesetzgeber. In zweiter Linie obliegt es den Fachgerichten, die verfassungsrechtlichen Gewährleistungen in den vom Gesetz gezogenen Grenzen bei der ihnen obliegenden Rechtsauslegung und -anwendung zu aktualisieren und weiterzuentwickeln.[54] Als (letztverbindlicher) „Hüter der Verfassung“[55] ist schließlich das Bundesverfassungsgericht dazu aufgerufen, den Gesetzgeber und die Rechtsprechung der Strafgerichte anhand der im Grundgesetz niedergelegten Maßstäbe zu kontrollieren.[56] Insoweit nimmt das Bundesverfassungsgericht auch eine bedeutende materielle Konkretisierungsfunktion wahr, indem es die verfassungsrechtlichen Gewährleistungen auslegt und unter Umständen Korrekturen oder Spezifikationen durch den Gesetzgeber anregt.[57]
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Die Mitwirkung des Bundesverfassungsgerichtsan der Aktualisierung der verfassungsrechtlichen Direktiven und Gebote steht in einem Spannungsverhältnis zu den Aufgaben des Gesetzgebers, dem die Aufgabe der Ausgestaltung des Systems der staatlichen Strafgewalt zukommt und der dabei über einen weiten Beurteilungs- und Gestaltungsspielraum verfügt.[58] Deshalb muss die Kontrolldichte des Bundesverfassungsgerichts zurückgenommen sein. Eine zu strikte Einzelkontrolle oder eine zu weitgreifende verfassungskonforme Auslegung einfacher Gesetze läuft nicht nur Gefahr, den Aufgaben- und Kompetenzkanon der ersten Gewalt empfindlich zu beschränken, sondern auch strafrechtliche und strafverfahrensrechtliche Zusammenhänge fehlerhaft zu deuten oder die dogmatische Geschlossenheit des Strafrechts zu unterminieren.[59] Dementsprechend enthält die Verfassung nur Mindestgarantien und trifft lediglich unverzichtbare elementare Vorgaben für die staatliche Strafgewalt. Diese gehen jedoch nach ihrem Wortlaut, ihrem Geltungsgrund und ihrem Telos den gesetzlichen Ordnungen des Strafrechts, des Strafprozesses und der Strafvollstreckung eindeutig vor.[60] Da die Tätigkeit der staatlichen Strafgewalt in höchstem Maße grundrechtsrelevant ist, muss vom Verfassungsrecht ein überformender Einflussauf das einfache Recht ausgehen.[61] Mit anderen Worten sind objektiv-rechtliche Wertedetermination und Ausstrahlungswirkung des Verfassungsrechts für das Strafrecht schlechthin systembildend.[62] In der Rechtspraxis bleibt allerdings entscheidend, dass das Bundesverfassungsgericht bei der Wahrnehmung der ihm obliegenden Kontrollfunktion die funktionell-rechtliche Vorrangstellung des Gesetzgebers respektiert und insbesondere bei der Frage nach der Zwecktauglichkeit von Strafgesetzen die gebotene Zurückhaltung walten lässt, ohne dabei zugleich die grundlegenden rechtsstaatlichen Anforderungen der Verfassung zu übergehen.[63] Parlamentarisch-demokratische Verantwortung und verfassungsgerichtliche Kontrolle sind letztlich gemeinsam dazu aufgerufen, in komplementärer Wechselwirkung und unter Einbeziehung auch internationaler menschenrechtlicher Mindeststandards zur Verwirklichung und Weiterentwicklung der verfassungsrechtlichen Vorgaben gegenüber dem materiellen Strafrecht und dem Strafverfahrensrecht beizutragen.[64]
1. Abschnitt: Das Strafrecht im Gefüge der Gesamtrechtsordnung› § 2 Verfassungsrechtliche Vorgaben für das Strafrecht› B. Staatsstrukturprinzipien und grundlegende allgemeine Verfassungsgebote
B. Staatsstrukturprinzipien und grundlegende allgemeine Verfassungsgebote
I. Achtung der Menschenwürde
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Der Höchstwert der Verfassung, die Garantie der Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG, ist in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu einer „ Magna Charta“ grundlegender Bindungen der staatlichen Strafgewalt geworden.[65] Im gesamten Bereich des materiellen und prozessualen Strafrechts verlangt die Achtung der Menschenwürde, dass der Beschuldigte oder Täter keinesfalls zum bloßen Objekt der Verbrechensbekämpfung oder Strafvollstreckung werden darf.[66] Daher haben zahlreiche und tragende verfassungsrechtliche wie einfachgesetzliche Einzelgewährleistungen ihre tiefere Wurzel in der Menschenwürdegarantie, so insbesondere der Schuldgrundsatz (nulla poena sine culpa),[67] das Folter- und Missbrauchsverbot (Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG, § 136a StPO), das Verbot der Todesstrafe (Art. 102 GG), das Verbot grausamer oder grob unangemessener Bestrafung,[68] das Recht auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) und das Gebot einer menschenwürdigen Ausgestaltung des Freiheitsentzugs, die eine Verpflichtung zur Resozialisierung einschließt.[69] Bei lebenslanger Freiheitsstrafe verlangt die Menschenwürdegarantie die konkrete und grundsätzlich realisierbare Chance des Verurteilten auf Wiedererlangung der persönlichen Freiheit.[70] Auch das Schweigerecht des Beschuldigten wird als Ausdruck der Achtung vor der Menschenwürde angesehen.[71] Die Unantastbarkeit des „Kernbereichs privater Lebensgestaltung“ bei modernen Ermittlungsmaßnahmen wie der Überwachung der Telekommunikation und des Wohnraums hat das Bundesverfassungsgericht ebenfalls mehrfach unterstrichen.[72] Sogar in Fällen mit extraterritorialem Bezug zieht der Menschenwürdevorbehalt des Grundgesetzes der Vollstreckung einer im Ausstellungsstaat erfolgten Verurteilung in absentia im Vollstreckungsstaat Grenzen.[73]
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