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Andere Autoren bemängeln, dass der personale Handlungsbegriff auch sozial irrelevante oder tatbestandslose Handlungen umfasst. So sagt Jescheck ,[60] der Begriff der Persönlichkeitsäußerung erfasse „zu weitgehend Ereignisse, die keinerlei soziale Relevanz besitzen“. Aber die soziale Relevanz ist nur eine Eigenschaft, die eine Handlung haben oder auch nicht haben kann. Sie entscheidet nicht über das Vorliegen einer Handlung. Der Einwand beruht auf dem schon erörterten sozialen Handlungsbegriff und ist mit diesem zu verwerfen.
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Gropp [61] erkennt durchaus an, „dass der personale Handlungsbegriff mit der Persönlichkeitsäußerung“ die Anforderungen eines Oberbegriffs erfülle. Er bemängelt aber, dass der „personale Handlungsbegriff nicht spezifisch strafrechtlicher Natur“ sei. „Auch der Roman des Schriftstellers oder das Bild des Malers sind Persönlichkeitsäußerungen, ohne irgendetwas mit Strafrecht zu tun zu haben.“
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Aber damit wird die Anknüpfungsfunktion des Handlungsbegriffs als Gegenstand strafrechtlicher Bewertung preisgegeben. Diese besteht ja gerade darin, dass die Handlung dem Tatbestand durchweg vorgelagert ist und mit den auf sie bezogenen strafrechtlichen Wertungen noch nichts zu tun hat. Die These Gropps läuft auf die schon oben abgelehnte Gleichsetzung von Handlung und Tatbestand hinaus (vgl. Rn. 50 f., 66 ff.).
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Umgekehrt halten Lenckner/Eisele [62] mir vor, dass die „Persönlichkeitsäußerung“ „wegen der jedenfalls beim Unterlassen unvermeidlicher Anleihen beim Tatbestand auf den Anspruch verzichten muss, uneingeschränkt eine Handlung ‚vor dem Tatbestand‘ zu sein“. Das ist der Sache nach für einen kleinen Teil der Unterlassungen zutreffend, begründet aber keinen Einwand, weil, wie schon dargelegt wurde, kein wie immer beschaffener Handlungsbegriff dieser in der Struktur der entsprechenden Strafvorschriften angelegten Konsequenz entgehen kann: Wenn jemand die Bezahlung einer gesetzlich nicht geforderten Steuer unterlässt, ist das nicht nur keine Persönlichkeitsäußerung, sondern auch kein gewillkürtes oder sozialerhebliches Verhalten. Auch von einem Nichtvermeiden kann nicht die Rede sein.
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Für Jescheck [63] wiederum ist der personale Handlungsbegriff nicht nur zu weit, indem er auch sozial irrelevante Handlungen erfasst, sondern auch „zu eng, weil die Unterlassung bei Unkenntnis der Gefahrenlage kaum als Persönlichkeits,äußerung‘ verstanden werden, dennoch aber (als fahrlässige Unterlassungstat) strafbar sein kann“.
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Wenn man aber jemandem etwas als strafbare Handlung, und sei es als fahrlässige Unterlassungstat, zum Vorwurf macht, kann man nicht gleichzeitig annehmen, dass es an einer „Persönlichkeitsäußerung“ fehle.
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Jescheck will offenbar auch, wie die Anführungszeichen andeuten, nicht den personalen Bezug, sondern dessen „Äußerung“ bezweifeln. Aber eine Persönlichkeit äußert sich nicht nur in aktiven Handlungen, sondern auch in unbewussten Unterlassungen: Auch in der fahrlässigen Vernachlässigung einer Aufsichtspflicht liegt eine Persönlichkeitsäußerung (unabhängig davon, ob sie einen Straftatbestand erfüllt). Denn sie ist Ausdruck einer wenig sorgsamen Persönlichkeit.
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Puppe [64] schließlich meint, man könne den Begriff der „Persönlichkeitsäußerung“ „sowohl auf die einzelne Körperbewegung oder Unterlassung beziehen als auch auf das Verbrechen als Ganzes unter Einschluss seiner Erfolgselemente und seines gesamten Unrechts- und Schuldgehalts“. Dieses umfassende Begriffsverständnis setze die Konstitution des Verbrechensbegriffs und des Einzelverbrechens bereits voraus, habe „also für diese keine Funktion“.
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Hier wird eine Deutung des personalen Handlungsbegriffs etwa im Sinne von Jakobs für möglich gehalten. Aber das ist ein Missverständnis. Denn der personale Handlungsbegriff schließt den Erfolg nicht ein, verbindet aber die einzelnen Deliktsstufen, ohne sie vorauszusetzen. Gerade dies begründet die Anknüpfungsfunktion des Handlungsbegriffs. Es gibt tatbestandsmäßige, rechtswidrige und schuldhafte Persönlichkeitsäußerungen. Aber eine Persönlichkeitsäußerung liegt auch schon unter Absehung von diesen Prädikaten vor.
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Puppe erwägt immerhin auch eine vortatbestandliche Konzeption des Begriffs der Persönlichkeitsäußerung und findet es „wenig sinnvoll, derart anspruchsvolle philosophische Aussagen auf etwas so Banales wie eine Körperbewegung zu beziehen“. Aber erstens ist der Begriff der Persönlichkeitsäußerung im Sinne eines schlichten Alltagssprachgebrauchs zu verstehen, zweitens ist der vorstrafrechtliche Sinngehalt etwa einer Ohrfeige durch ihre Kennzeichnung als Persönlichkeitsäußerung weitaus besser erfasst, als wenn man sie als bloße Körperbewegung qualifiziert. Und drittens besteht nicht alles möglicherweise strafrechtsrelevante Verhalten in einer Körperbewegung. Dem Begriff der Persönlichkeitsäußerung können auch andere und kompliziertere Vorgänge unterstellt werden.
VII. Die systematische Verortung des Handlungsbegriffs
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Es liegt an der Anknüpfungsfunktion des Handlungsbegriffs begründet, dass das Vorliegen einer Handlung vor der Tatbestandsmäßigkeit zu prüfen und im Regelfall von deren Bejahung oder Verneinung unabhängig ist. Trotzdem wird die Handlung in der Literatur teilweise als Tatbestandsvoraussetzung behandelt. So sagt beispielsweise Frister ,[65] eine vortatbestandliche Erörterung der Handlungsvoraussetzungen sei „unnötig kompliziert und auch begriffslogisch nicht begründet. Die Handlung ist ein Teil des im Tatbestand beschriebenen Sachverhalts … und sollte von daher ebenso wie dessen andere Teile im Tatbestand selbst subsumiert werden.“
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In vergleichbarer Weise meint Otto :[66] „Um das berechtigte Anliegen durchzusetzen, der Grundvoraussetzung strafrechtlicher Haftung, der möglichen Willenssteuerung des Verhaltens, Bedeutung zu verschaffen, bedarf es keiner vortatbestandlichen Handlungslehre. Bei der Prüfung der Voraussetzungen des konkreten Tatbestandes ist vielmehr jeweils darzutun, ob der Täter durch willensgesteuertes Verhalten die Möglichkeit hatte, den zum Erfolg führenden Kausalverlauf zu beeinflussen. Dies ist der Ausgangspunkt der Erörterung, nicht aber die Prüfung einer Handlung unabhängig vom konkreten tatbestandsmäßigen Verhalten.“
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Andererseits wird weithin eine vortatbestandliche Handlungsprüfung favorisiert, besonders dezidiert etwa von Walter [67] und Baumann/Weber/Mitsch/Eisele [68]. Abwägend formuliert Kühl :[69] „Die Prüfung, ob eine menschliche Handlung überhaupt vorliegt, kann auch in die Prüfung der Tatbestandsmäßigkeit dieser Handlung integriert werden, sie sollte aber besser als ‚Vorprüfungsstufe‘ vor die Prüfung der Tatbestandsmäßigkeit ‚geschaltet‘ werden.“
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Der letztgenannten Auffassung ist zuzustimmen. Man kann freilich der Handlung im Rahmen des Strafrechtssystems keine eigenständige Deliktsstufe zuweisen. Denn was den strafrechtlichen Bewertungen vorgelagert und – wenigstens in der Regel – von ihnen unabhängig ist, kann keine Deliktskategorie sein. Wer seinen Rasen mäht, nimmt eine Handlung vor; diese liegt aber natürlich nicht innerhalb eines Deliktssystems. Gerade deswegen sollte jedoch die Frage nach der Vorfindbarkeit einer Handlung vor dem Eintritt in eine Tatbestandssubsumtion geprüft werden, sofern an ihrem Vorliegen Zweifel bestehen können. Für eine Prüfung „vor dem Tatbestand“ sprechen – wo dieser möglich ist – drei Gründe.
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Erstens ist die Frage, ob eine Handlung anzunehmen ist, gegenüber derjenigen nach den Voraussetzungen einer Tatbestandserfüllung logisch vorrangig. Es handelt sich hier gerade nicht, wie Otto meint, um eine „Prüfung der Voraussetzungen des konkreten Tatbestandes“, sondern um ein Element, das allen Tatbeständen und darüber hinaus auch allen personal zurechenbaren Verhaltensweisen eigen ist. Auch der Charakter der Handlung als Verbindungselement zwischen Tatbestand, Rechtswidrigkeit und Schuld spricht gegen die Zuordnung zu einer dieser Deliktsstufen.
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