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Der personale Handlungsbegriff erfasst andererseits problemlos alle fahrlässigen Handlungen und Unterlassungstaten. Wenn jemand unter Verletzung der Verkehrsregeln einen Unfall verursacht, liegt in der Fahrweise des Täters die Persönlichkeitsäußerung eines rücksichtslos agierenden Verkehrsteilnehmers, und wenn jemand bei einem Unfall die gebotene Hilfeleistung unterlässt, äußert sich auch darin die Persönlichkeit eines hilfsunwilligen Menschen.
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Auch unbewusst fahrlässige Unterlassungen, an denen der natürliche Handlungsbegriff scheitert, lassen sich ohne weiteres als Persönlichkeitsäußerungen verstehen. Wenn in dem oben ( Rn. 37 ff.) erwähnten Beispiel ein Bahnbeamter die Weiche zu stellen vergisst und dadurch einen schweren Unfall herbeiführt, ist dies der Ausdruck einer Persönlichkeit, die mit ihren Dienstpflichten nachlässig umgeht. Dabei ist nicht etwa die strafrechtliche Relevanz für den Handlungsbegriff schon vorausgesetzt. Auch die Unaufmerksamkeit des sprichwörtlich zerstreuten Professors, die keine oder allenfalls für ihn selbst nachteilige Folgen hat, ist eine Persönlichkeitsäußerung.
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Allerdings ist der hier befürwortete Handlungsbegriff nicht ausnahmslos tatbestandsneutral. Wo bei Unterlassungsdelikten eine Handlungserwartung allein durch die Anordnung des Gesetzgebers entsteht, schafft erst der Tatbestand die Unterlassungshandlung. Wenn beispielsweise der Gesetzgeber Steuer-, Melde- oder Ablieferungspflichten aufstellt und den Verstoß gegen sie mit Strafe bedroht, lässt erst das Gesetz die Untätigkeit zu einer Unterlassungshandlung werden. Solange das Gebot nicht existiert, wäre die Vornahme der entsprechenden Handlung absurd. Ihre Unterlassung ist dann ein Nichts und keine Persönlichkeitsäußerung.
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Dieses Übergreifen des Handlungsbegriffs auf den Tatbestand gilt nur für den verhältnismäßig seltenen, auf spezielle staatliche Anordnung beschränkten Fall, dass erst das gesetzliche Gebot die Handlungserwartung schafft.
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Im Regelfall macht schon eine strafrechtsunabhängige soziale Erwartung ein Untätigbleiben zu einer Persönlichkeitsäußerung und damit zu einer Unterlassungshandlung. Wenn jemand bei einem Unglücksfall nicht hilft, ist das eine Unterlassungshandlung, weil die Hilfsbereitschaft einer sozialen Erwartung entspricht. Ob diese Handlung als tatbestandsmäßig im Sinne des § 323c StGB beurteilt werden kann, ist dann erst eine anschließende, von vielen zusätzlichen Umständen abhängige Frage. Auch wer einem anderen eine von der Verkehrssitte erwartete Begrüßung in Form eines Händedrucks verweigert, nimmt eine Unterlassungshandlung vor. Denn darin liegt eine Persönlichkeitsäußerung. Ob diese strafrechtlich als Beleidigung zu würdigen ist, wird dadurch nicht präjudiziert. Das entscheidet sich erst im Rahmen der Tatbestandsprüfung.
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Das bei einzelnen strafbewehrten staatlichen Geboten eine Unterlassungshandlung erst durch die gesetzgeberische Anordnung ermöglicht wird, ist auch kein Manko des personalen Handlungsbegriffs. Es ist vielmehr ein Vorzug, weil dadurch die Besonderheit der Deliktsstruktur verdeutlicht wird. Auch keiner der anderen Handlungsbegriffe kann hier ein vortatbestandliches Anknüpfungssubstrat aufweisen.
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Es wird außerdem die Verknüpfung von Handlung und Tatbestand durch ihre hier vorgenommene Reduzierung auf einen engen, meist nebenstrafrechtlichen Bereich begrenzt. Dadurch wird die viel zu weitgehende Annäherung der Handlung an den Tatbestand, die dem negativen und dem sozialen Handlungsbegriff anzulasten war, rückgängig gemacht. Allein auf diese Weise lassen sich die Selbstständigkeit des Handlungsbegriffs und seine Anknüpfungsfunktionen erhalten.
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Der personale Handlungsbegriff löst sich von der Fixierung auf ontische, naturalistische und deskriptive Faktoren, die den Kriterien der Kausalität, der Willkürlichkeit oder Finalität anhaftet. Diese Befreiung vom „Naturalismus“ hatte schon Eberhard Schmidt als notwendig erkannt und durch das Postulat der Sozialerheblichkeit zu erreichen versucht. Jedoch sollte die Normativierung des Handlungsbegriffs aus der Eigenart des Täterverhaltens und nicht aus davon unabhängigen sozialen Bewertungen begründet werden. Das meint auch Murmann ,[49] wenn er sagt: „Die personalen Handlungslehren haben gegenüber den sozialen Handlungslehren den Vorzug, dass der soziale Sinngehalt einem Handeln nicht von außen zugeschrieben, sondern vom Handelnden selbst (mit-) begründet wird.“
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Der personale Handlungsbegriff ist zudem als Anknüpfungspunkt für alles strafrechtsrelevante Verhalten auch deshalb besser geeignet als alle anderen Handlungsbegriffe, weil er den vorstrafrechtlichen Gehalt menschlichen Handelns weitaus besser zur Geltung bringt als diese. So ist es, um auf ein oben behandeltes Beispiel zurückzugreifen, wenig prägnant, eine Beleidigungshandlung auf die Verursachung von Schallwellen, auf deren finale Überdetermination, auf den willentlichen Einsatz von Körperkraft oder ein vermeidbares Nichtvermeiden zurückzuführen. Die Bezeichnung als sozialerheblich ist zwar zutreffend, erfasst aber nicht die Täterhandlung, sondern nur deren gesellschaftliche Bewertung. Dagegen trifft es den Kern der Sache, wenn man die Beleidigung in einem von strafrechtlicher Bewertung noch freien Sinn als „Persönlichkeitsäußerung“ charakterisiert.
2. Vertreter einer personalen Handlungslehre
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Die personale Handlungslehre hat in der Literatur eine nicht geringe Zahl von Vertretern. Arthur Kaufmann [50] hatte schon 1966 eine „personale Handlungslehre“ entwickelt und Handeln als „Objektivation der Person“ verstanden. Ich hatte dann 1968[51] Handlung als „personale Zurechenbarkeit“ definiert und als „Handlung“ alles bezeichnet, „was sich einem Menschen als Person … zuordnen lässt, sei es, dass er es willentlich getan oder gelassen hat, sei es, dass er es wenigstens hätte tun oder lassen sollen“. Rudolphi [52] hat im Anschluss daran betont, dass „sich also sowohl menschliches Handeln als auch menschliches Unterlassen unter dem Begriff des personal zurechenbaren Verhaltens zusammenfassen lassen“.
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In der Gegenwart findet der personale Handlungsbegriff eine zunehmende Zahl von Anhängern. M. Heinrich [53] versteht in „punktgenauer“ Übereinstimmung mit der hier vertretenen Auffassung unter Handlung „solche vom Menschen ausgehende Einwirkungen, die dem jeweiligen Individuum in seiner personalen Existenz zugeordnet werden können“. Kudlich schreibt:[54] „Tragfähig erscheint die Umschreibung einer menschlichen Handlung als ‚Persönlichkeitsäußerung‘.“ Lenckner/Eisele [55] betonen, „dass das Wesen der menschlichen Handlung als einer ‚Persönlichkeitsäußerung‘ … darin besteht, dass es ein geistig kontrollierbares und steuerbares Gestalten der Wirklichkeit ist“. Nichthandlungen seien nicht mehr personell zurechenbare Geschehensabläufe. Kühl [56] stellt fest, bevor man ein Verhalten auf seinen Unrechts- und Schuldgehalt untersuche, müsse man wissen, „dass der Täter sich wie ein Mensch, genauer: wie eine Person verhalten hat“. Auf die zustimmende Stellungnahme Murmanns wurde schon hingewiesen[57].
3. Kritik am personalen Handlungsbegriff
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Freilich fehlt es auch nicht an kritischen Stimmen. Doch sind die Einwände ziemlich leicht zu widerlegen. Das gilt zunächst für die Behauptung zu großer Unbestimmtheit. So schreiben Krey/Esser ,[58] der Preis für die Bildung eines solchen Oberbegriffs sei „zu hoch. Denn das Kriterium der Persönlichkeitsäußerung ist eine Leerformel ohne verbrechenssystematischen Erkenntniswert.“ Das ist aber selbst nach den Prämissen der Autoren verfehlt. Denn auch sie lehnen eine Handlung ab, wenn ein Geschehensverlauf der Willenssteuerung durch den Täter nicht zugänglich war.[59] Wo eine Willenssteuerung aber möglich ist und auch Krey/Esser eine Handlung annehmen, liegt stets ein personal zurechenbares Verhalten und damit eine Persönlichkeitsäußerung vor.
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