Um den Aufbau des französischen Verwaltungsrechts und seine Entwicklung und Bedeutung in Frankreich zu verstehen, darf man nicht aus den Augen verlieren, dass die Zentralisierung der Verwaltung „den Staat errichtet und Frankreich geschaffen hat“.[3] Historisch betrachtet hat die Tradition der Zentralisierung der öffentlichen Verwaltung eine Sonderstellung eingeräumt. Parallel dazu hat sich als Korrektiv die Verwaltungsgerichtsbarkeit entwickelt. Aus diesem Prozess, der zwei gegenläufige, sich ergänzende Erscheinungen miteinander verbindet, ist das französische Verwaltungsrecht entstanden, auch wenn die Verwaltung seit der Monarchie ihr eigenes Recht geschaffen hat.[4] Um den Aufbau des Verwaltungsrechts und das Wesen des Rechts der öffentlichen Verwaltung in seinen wichtigsten Ausprägungen zu erfassen, ist es erforderlich, auf die grundlegenden Prinzipien einzugehen.
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Die Republik, die nach dem Zusammenbruch des Zweiten Kaiserreichs entsteht, versteht es, die öffentliche Gewalt zur Verwirklichung ihres Programms zu nutzen. Die Verwaltung hat dabei als Instrument der Exekutive die Aufgabe, die materielle und rechtliche Umsetzung dieser Gewalt zu gewährleisten, an der sie als „Staatsapparat ( appareil d’État )“ teilhat. Aus wirtschaftlichen (industrielle Revolution), sozialen (demografische Entwicklung und Urbanisierung) und politischen (vorübergehende Wiederherstellung des kaiserlichen Absolutismus) Gründen sieht sich die Regierung der Republik dabei mit einer Verwaltung konfrontiert, die sich stetig weiter organisiert, entwickelt und verbessert, und die noch immer von einer obrigkeitsstaatlichen und a priori kaum mit dem demokratischen Ideal zu vereinbarenden Tradition geprägt ist. Die Republikaner innerhalb der Regierung, die in der Tradition des französischen Etatismus stehen, verstärken diese Bewegung, da „die Republik noch beweisen muss, dass sie das Beste für alle ist und dass sie zum Fortschritt der Mehrheit und der Ärmsten beiträgt“.[5] Dies führt zu einer Ausweitung der Kompetenzen und Vorrechte der Verwaltung und vergrößert ihre Autonomie. Ungeachtet des republikanischen Dogmas von der Unterordnung der Verwaltung unter die Regierung ist der „ pouvoir administratif “ dabei keiner effektiven politischen Kontrolle mehr unterworfen: Zwar verfügt die stark zentralisierte Verwaltung über eine Art „ réflexe monarchique “, der dem Hierarchieprinzip großen Raum lässt. Letzteres wird aber nicht nur durch die territorialen Verwaltungsreformen eingeschränkt. Auch die Erfahrungen mit der Schwäche der Exekutivgewalt in der III. Republik verhindern die Schaffung des nötigen Gegengewichts zur Administrativgewalt, zumal sich zeigt, dass das Parlament seinerseits unfähig ist, den Verwaltungsapparat effektiv zu steuern und zu kontrollieren.
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Vor diesem Hintergrund sind die richterlichen Mechanismen nicht nur aufgerufen, Defizite des gesetzlichen Freiheitsschutzes zu kompensieren. Sie sollen auch die Anforderungen des Parlamentarismus mit der jahrhundertealten Tradition einer monarchisch geprägten Verwaltung in Einklang bringen. Der Conseil d’État (Staatsrat), dem durch das Gesetz vom 24.5.1872 der Status eines Gerichts verliehen und dessen Beratungsfunktion gefestigt wird, steht im Zentrum der Konfrontation, da es ihm obliegt, zwischen der Notwendigkeit administrativen Handelns und seiner Begrenzung zu vermitteln. Er gewährleistet eine „ collaboration “ zwischen Regierung und Verwaltung, deren gerichtliche Kontrolle gleichzeitig Schutz vor willkürlichem Verwaltungshandeln bietet. Dabei drängt die richterliche Sanktion sowohl die Begrenzung der Ziele des Staates als auch die politische Sanktion, auf der die Konzeption des Staates von 1789 beruhte, in den Hintergrund: Einerseits bekommen die administrés (Verwaltungsunterworfene)[6] mit dem recours (Beschwerde) ein Instrument zum Protest gegen die Staatsgewalt, das wesentlich wirksamer ist als ein Widerstandsrecht gegen einen Staat, der das Gewaltmonopol inne hat; andererseits ermöglicht der recours den Gerichten nicht nur den Schutz der Rechte des administré , sondern auch die Unterwerfung der Verwaltung unter die Regeln des Rechts.[7] Eine solche Konzeption dient unzweifelhaft der republikanischen Lehre, nach der der staatliche Eingriff ein Instrument des gesellschaftlichen Fortschritts und die Wahrung der öffentlichen Ordnung eine Bedingung für die Errichtung der Republik ist. Anders ausgedrückt: Es bleibt dem Conseil d’État überlassen, „das historische Kunststück“ zu vollenden, das darin besteht, „sich den Liberalismus anzueignen, ohne das monarchische Erbe gänzlich zu verleugnen“ (Pierre Legendre), mit anderen Worten, die Verwaltung zu beschränken, um sie besser zu organisieren.
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Daher ist die Form des heutigen Verwaltungsrechts in hohem Maße abhängig von der Tätigkeit der Verwaltungsgerichtsbarkeit, wie sie sich in der Republik, deren Produkt das Verwaltungsrecht ist, gefestigt hat; die Besonderheit des Verwaltungsrechts in Frankreich resultiert mehr aus den Bedingungen seiner Entwicklung als aus den der Verwaltung übertragenen Aufgaben.
a) Die Verwaltungsgerichtsbarkeit
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Das Gesetz vom 24.5.1872 erlaubt die Übernahme von Mechanismen der Verwaltungskontrolle aus der Kaiserzeit in die Republik, insbesondere die Aufrechterhaltung der Institutionen, die durch die Verfassung vom 22. Frimaire des Jahres VIII (13.12.1799) geschaffen worden waren. Da es sich dem Dualismus der Gerichtsbarkeiten und seinen rechtlichen Grundlagen widmet, leistet es der Erneuerung der formal bestätigten Verwaltungsgerichtsbarkeit Vorschub. In dieser verbinden sich eine bestimmte Konzeption der Gewaltenteilung – oft als französische Konzeption der Gewaltenteilung bezeichnet – mit der Unabhängigkeit des Verwaltungsrichters.
aa) Die französische Konzeption der Gewaltenteilung
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Ausgangspunkt der post-revolutionären Errichtung eines Verwaltungsrechts ist die Bekräftigung des Grundsatzes der Gewaltenteilung und seiner „französischen“ Ausprägung. Diese ist bis heute für den Conseil constitutionnel (Verfassungsrat) Bezugspunkt für die Annahme eines von den Gesetzen der Republik anerkannten grundlegenden Rechtsprinzips: „In Anbetracht dessen, dass die Vorschriften der Art. 10 und 13 des Gesetzes vom 16. und 24.8.1790 und des Dekrets vom 16. Fructidor des Jahres III [2.9.1795], die das Prinzip einer Trennung von Verwaltung und ordentlicher Gerichtsbarkeit allgemein festgeschrieben haben, selbst keinen Verfassungsrang haben; dass aber dennoch entsprechend der französischen Konzeption der Gewaltenteilung zu den ,grundlegenden Rechtsprinzipien der Gesetze der Republik‘ auch das Prinzip gehört, dass mit Ausnahme der Sachen, die ihrem Wesen nach der ordentlichen Gerichtsbarkeit vorbehalten sind, für die Aufhebung oder Veränderung von Entscheidungen, die die zur Ausübung exekutiver Gewalt berufenen Behörden, ihre Beamten, die Gebietskörperschaften der Republik oder solche öffentlichen Einrichtungen, die deren Befehlsgewalt oder Kontrolle unterworfen sind, in Ausübung der Vorrechte öffentlicher Gewalt getroffen haben, die Verwaltungsgerichte zuständig sind.“[8]
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Im Rahmen der Gewaltenteilung beschränkten die Revolutionäre die Rolle der Verwaltung auf den Vollzug der Gesetze. Sie verfügte daher nicht über eine eigene Rechtsetzungsbefugnis. Dennoch ist der aus der Trennung von Verwaltung und ordentlicher Gerichtsbarkeit resultierende Grundsatz, dass die Gerichte nicht über Streitfälle mit Bezug zur Verwaltung entscheiden dürfen, grundlegend für die Entstehung eines spezifischen Verwaltungsrechts. Obwohl das Gerichtsorganisationsgesetz vom 16. und 24.8.1790 in Art. 13 betont, dass „die Funktion der ordentlichen Gerichtsbarkeit und die Funktion der Verwaltung verschieden sind und immer getrennt bleiben“ und „die Richter unter Androhung von Strafe weder die Tätigkeit der Verwaltung in irgendeiner Weise stören noch die Verwaltungsbeamten wegen ihrer Amtsausübung vorladen dürfen“, will es der ordentlichen Gerichtsbarkeit keineswegs die verwaltungsrechtlichen Streitigkeiten entziehen; es soll sie vielmehr nur dazu anhalten, ihre rechtsprechende Funktion zu wahren, und ihr die Beteiligung an der vollziehenden Gewalt durch Vornahme von Verwaltungsmaßnahmen untersagen. Nichtsdestotrotz haben die historischen Umstände doch zu einem Entzug der verwaltungsrechtlichen Streitigkeiten geführt: Das Gesetz vom 6., 7. und 11.9.1790 überträgt den gewählten lokalen Verwaltungsbeamten ( administrateur locaux élus ) die Zuständigkeit für zahlreiche Verwaltungsbeschwerden, und das Gesetz vom 7. bis 14.10.1790 behält dem König als Chef der allgemeinen Verwaltung „die auf die Unzuständigkeit der Verwaltungsbehörden gestützten Beschwerden“ vor. Auf Grundlage dieser Regelungen hat sich während des gesamten 19. Jahrhunderts die Idee einer französischen Konzeption der Gewaltenteilung entwickelt, nach der „das Richten über die Verwaltung immer noch Verwaltung ist“.[9]
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