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Die öffentliche Verwaltung kann als Gesamtheit der natürlichen und juristischen Personen begriffen werden, die Verwaltungsaufgaben erfüllen. Gleichzeitig kann sie auch als Gesamtheit von Tätigkeiten verstanden werden.
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Ein organischer Ansatz nimmt die natürlichen Personen in den Blick, um so zwischen den Verwaltungsbediensteten und den Verwaltungsämtern (wie préfet oder maire ), die diese Bediensteten bekleiden, wenn sie mit der Befugnis zum Erlass von Rechtsakten ausgestattet sind, zu unterscheiden. Das Handeln der natürlichen Personen wird den juristischen Personen zugerechnet. Letztere können collectivités (Körperschaften) sein, also Vereinigungen, deren Mitglieder territorial (der Staat und innerstaatliche Gebietskörperschaften) oder beruflich (Kammern) bestimmt sind, oder einer bestimmten Tätigkeit dienen. Ein Beispiel sind die Universitäten. Diese sind öffentliche Einrichtungen, die mit der Lehre, der Forschung und der Berufsausbildung betraut sind. Denkbar sind auch Sportverbände, also Privatpersonen, die eine Aufgabe des allgemeinen Interesses wahrnehmen. Dementsprechend sind innerhalb der öffentlichen Verwaltung die Gebietskörperschaften auf der einen Seite und spezialisierte Einrichtungen auf der anderen Seite zu unterscheiden.
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Um die öffentliche Verwaltung insgesamt zu erfassen, sind diese organisatorischen Aspekte mit einem Verständnis der Verwaltung als Ensemble von Tätigkeiten zu kombinieren. Negativ und unter Berücksichtigung aller staatlichen Handlungen formuliert, ist die Verwaltung nicht Gesetzgebung, Regierung oder Rechtsprechung. Positiv formuliert erbringt sie eine Vielzahl von Tätigkeiten, die durch ihren Zweck (Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Befriedigung von Interessen der Allgemeinheit) und die Modalitäten ihrer Erbringung (unter der Herrschaft und der Aufsicht der Regierung) charakterisiert sind.
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Mit Blick auf die Zwecke ist zunächst festzustellen, dass die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, obwohl auch sie im Interesse der Allgemeinheit liegt, klassischerweise von der Befriedigung anderer Gemeinwohlinteressen unterschieden wird. Inbegriff ist die als „ police administrative “ bezeichnete Abwehr von Gefahren für die öffentliche Ordnung. Die öffentliche Ordnung ( ordre public ) umfasst traditionell die öffentliche Sicherheit und die öffentliche Gesundheit ( la sûreté, la sécurité et la salubrité publiques ).[16] Aus diesen Schutzgütern werden auch aktuellere Aspekte wie Gesichtspunkte der Moral oder sogar der Ästhetik abgeleitet. Andere Gemeinwohlinteressen werden in unterschiedlichen Formen erfüllt. Leitend ist das (oft relative) Gegenüber von Regelungen (insoweit spielen Verbot und Gebot eine wichtige Rolle bei der Organisation des sozialen Lebens) und Leistungen. Leistungen stehen im Mittelpunkt des service public , eines Begriffs, der in Frankreich den „Stellenwert eines echten Mythos“[17] hat und der paradoxerweise die europäische Konstruktion eines als französisch bezeichneten Konzepts des service public unterstützt hat.
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Der service public steht im Zentrum der Diskussion über die Rolle des Staates. So ist der Staat für den Protagonisten der Lehre vom service public , Léon Duguit, nicht etwa eine souveräne Gewalt, sondern „eine Gruppe von Individuen, die über eine Kraft verfügen, die sie zur Schaffung und Leitung der services publics einsetzen müssen“. Der service public , unter dem Duguit „alle Handlungen [versteht], deren Erfüllung von den Regierenden geregelt, gesichert und kontrolliert werden muss, weil dies für die Verwirklichung und Entwicklung der sozialen Verhältnisse unerlässlich ist und er ohne Eingriffe der Regierung nicht vollständig abgesichert werden kann“,[18] ist Grundlage der Rechtfertigung hoheitlichen Handelns und seiner Beschränkung. Dieser Ansatz, der den service public als Grundlage für die Rechtfertigung staatlichen Handelns begreift, steht in engem Zusammenhang mit der Bedeutung, die ihm bei der Rechtfertigung der Autonomie des Verwaltungsrechts und der Befugnisse der Verwaltungsgerichtsbarkeit zukommt.
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Der service public kann als Tätigkeit definiert werden, die von der Verwaltung direkt oder indirekt mit dem Ziel wahrgenommen wird, ein Bedürfnis des allgemeinen Interesses zu erfüllen und die zumindest teilweise dem öffentlichen Recht unterworfen ist.[19] Der Begriff ist schwer zu fassen. Teilweise wird er für „unauffindbar“ gehalten. Nichtsdestotrotz spielt er eine Schlüsselrolle bei der Bestimmung der zentralen Begriffe des Verwaltungsrechts, so dass einige in ihm „den Eckpfeiler des Verwaltungsrechts“ (Gaston Jèze) gesehen haben. Eine solche Bewertung war nur haltbar bis zur Ausdehnung der Tätigkeiten des service public von der Verwaltung auf Industrie und Handel und vor ihrer Übernahme durch Private, mit anderen Worten: bis zur Anerkennung eines privaten service public .[20]
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Mit Blick auf die Modalitäten der Erbringung von gemeinwohlbezogenen Tätigkeiten ist wichtig, dass diese entweder unter der Herrschaft der Regierung (staatliche Verwaltung) oder lediglich unter ihrer Aufsicht (autonome Verwaltungen etwa der Gebietskörperschaften) stattfindet.
bb) Unterordnung und Unabhängigkeit
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Zwei Grundsätze, die auf den ersten Blick in einem paradoxen Verhältnis zueinander zu stehen scheinen, bestimmen die Stellung der öffentlichen Verwaltung in Frankreich: auf der einen Seite die Unterordnung der Verwaltung unter die Regierung, auf der anderen Seite die Unabhängigkeit der Verwaltung von der politischen Gewalt.
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Tatsächlich befindet sich die Verwaltung in einer untergeordneten Position, wie die Verfassung vom 4.10.1958 in Art. 20 deutlich zum Ausdruck bringt: „Die Regierung verfügt über die Verwaltung“. Sie dient den öffentlichen Interessen, die ihr zugleich von außen und von oben durch die politische Gewalt vorgegeben werden. Die Vorstellung, dass die Tätigkeit der Verwaltung alleine auf das allgemeine Interesse ausgerichtet ist, muss insoweit relativiert werden, als es sich um das allgemeine Interesse handelt, wie es hier und jetzt, in einem bestimmten historischen Kontext, in einem bestimmten Staat und in einem bestimmten politischen System, durch die im Amt befindliche Regierung definiert wird. Mit anderen Worten und abgesehen davon, dass die Bedeutung des Begriffs „Gemeinwohl“ variabel und flexibel ist, wird das Gemeinwohl, das die Grundlage des Verwaltungshandelns bildet, alleine von der politischen Gewalt bestimmt: Die einzelnen Gemeinwohlbelange hängen vom Willen der Regierenden ab; maßgeblich sind die Belange, für deren Übernahme sich die politischen Entscheidungsträger aussprechen. Dass die Verwaltung an der Vorbereitung und Durchführung dieser Entscheidung teilhat, ändert nichts daran, dass die Verwaltung unabhängig ist. Letzteres garantiert die Wirksamkeit der Verwaltung und erlaubt es ihr, ihre Fachkenntnisse bestmöglich einzusetzen. Das wird dadurch verstärkt, dass die öffentlichen Bediensteten wie alle Bürger an einem System des Freiheitsschutzes teilhaben, zu dessen wesentlichen Inhalten die Meinungsfreiheit gehört. Auch das Konzept eines dem Leistungsprinzip verpflichteten öffentlichen Dienstes begünstigt die Verwirklichung dieser Unabhängigkeit.
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Auch wenn ein Ausgleich zwischen den Prinzipien der Unterordnung und der Unabhängigkeit nicht ausgeschlossen ist, gibt es doch verschiedene Ansätze, diese Prinzipien in Frage zu stellen. So wird das Prinzip der Unterordnung praktisch beschränkt durch die Einmischung von Verwaltungsangehörigen in die Politik (starke Repräsentation in Parlament und Regierung, Präsenz in den Ministerialkabinetten), durch die zunehmende Ausweitung administrativer Rechtsetzungsbefugnisse und durch die Entwicklung unabhängiger Verwaltungsbehörden, die gerade darauf zielen, sich dem Zugriff der gewählten Organe zu entziehen.[21] Die Politisierung des höheren öffentlichen Dienstes und die Entwicklung eines französischen Systems der Ämterpatronage tragen zusätzlich zur Relativierung des Prinzips der Unabhängigkeit bei. Vor diesem Hintergrund und infolge ihrer Aufgaben, die sie innerhalb des rechtlich definierten Rahmens erfüllen muss, ist die öffentliche Verwaltung keineswegs souverän.
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