Teil I Kommentar zum Jugendgerichtsgesetz› Erster Teil Anwendungsbereich
Erster Teil Anwendungsbereich
Inhaltsverzeichnis
§ 1 Persönlicher und sachlicher Anwendungsbereich
§ 2 Ziel des Jugendstrafrechts; Anwendung des allgemeinen Strafrechts
§ 1 Persönlicher und sachlicher Anwendungsbereich
(1) Dieses Gesetz gilt, wenn ein Jugendlicher oder ein Heranwachsender eine Verfehlung begeht, die nach den allgemeinen Vorschriften mit Strafe bedroht ist.
(2) Jugendlicher ist, wer zur Zeit der Tat vierzehn, aber noch nicht achtzehn, Heranwachsender, wer zur Zeit der Tat achtzehn, aber noch nicht einundzwanzig Jahre alt ist.
(3) Ist zweifelhaft, ob der Beschuldigte zur Zeit der Tat das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat, sind die für Jugendliche geltenden Verfahrensvorschriften anzuwenden.
I.Grundlagen1 – 18
1. Systematische Einordnung und Ziel1
2. Geschichtliche Entwicklung2, 3
3. Geltung in den neuen Bundesländern bis 20104
4. Reform5 – 9
5. Praktische Bedeutung10 – 18
II. Persönlicher Anwendungsbereich19 – 26
1. Kinder20 – 24
2. Zweifel am genauen Alter von Jugendlichen und Heranwachsenden25
3. Rechtsfolgen einer falschen Einordnung26
III.Sachlicher Anwendungsbereich27 – 30
1. Verfehlung27, 28
2. Geltung29, 30
Literatur:
Beinder Zur Diskussion um die Herabsetzung der Strafmündigkeitsgrenze, JR 2019, 554-563; Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Das Jugendkriminalrecht vor neuen Herausforderungen? Jenaer Symposium 2009; BT-Drucks. 16/13142 vom 26.5.2009: Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN „Jugendstrafrecht im 21. Jahrhundert; Deutsches Jugendinstitut (DJI) Arbeitsstelle Kinder- und Jugendkriminalprävention (Hrsg.), Der Mythos der Monsterkids. Strafunmündige „Mehrfach- und Intensivtätern“, 1999; DJI Wider die Ratlosigkeit im Umgang mit Kinderdelinquenz, 2000; Dollinger/Schmidt-Semisch (Hrsg.), Handbuch Jugendkriminalität – Interdisziplinäre Perspektiven, 2018; Heinz Sekundäranalyse empirischer Untersuchungen zu jugendkriminellrechtlichen Maßnahmen, deren Anwendungspraxis, Ausgestaltung und Erfolg, 2019; Laubenthal/Nestler Geltungsbereich und Sanktionenkatalog des JGG, in: Dollinger/Schmidt-Semisch (Hrsg.), 2010, 475-482; Pfeiffer Gegen die Gewalt. Warum Liebe und Gerechtigkeit unsere besten Waffen sind. 2019; Pfeiffer/Baier Die Leistungskrise der männlichen Jugendlichen und jungen Männer. Sind auch in Deutschland wie in den USA die Computerspiele schuld? ZJJ/2020; Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestages – Strafmündigkeit – Rechtliche Situation in der Europäischen Union, ZJJ 2019, 409-411.
I. Grundlagen
1. Systematische Einordnung und Ziel
1
Das Jugendgerichtsgesetz enthält Sondervorschriften für Jugendliche und Heranwachsende, die das materielle Jugendstrafrecht, die Jugendgerichtsverfassung und das Verfahren vor den Jugendgerichten betreffen und bis hin zu Vollstreckung und Vollzug in Jugendsachen reichen. Das Kernstück bilden die Vorschriften über die Folgen von Straftaten der 14- bis unter 21-Jährigen. Mit Hilfe dieser Normen soll den Entstehungszusammenhängen von Jugendkriminalität Rechnung getragen und Reaktions- und Sanktionsformen angeboten werden, die die biologische, psychologische und soziologische Übergangssituation junger Menschen berücksichtigen. Wie die Bezugnahme auf die allgemeinen Vorschriften in § 1 Abs. 1belegt, handelt es sich nicht um ein eigenständiges Jugendkonfliktrecht. Gerade bei den Straftatvoraussetzungen ist die Verknüpfung mit dem allgemeinen Strafrecht besonders deutlich. Auf Grund zahlreicher Verflechtungen bedarf es klarstellender Vorschriften. § 1begrenzt den persönlichen und sachlichen Anwendungsbereich. Ergänzend ist zu berücksichtigen, dass nach § 19 StGB schuldunfähig ist, wer bei Begehung der Tat noch nicht 14 Jahre alt ist (unwiderlegliche Vermutung der Schuldunfähigkeit von Kindern, MüKo-StGB- Streng § 19 Rn 3).
2. Geschichtliche Entwicklung
2
Die Strafmündigkeitsgrenze wurde bereits im ersten JGG vom 16. Februar 1923 auf 14 Jahre festgesetzt, nachdem sie zuvor gem. § 55 StGB a.F. bei 12 Jahren gelegen hatte. Nach dem RJGG vom 6.11.1943 konnten Kinder ab 12 Jahren bestraft werden, „wenn der Schutz des Volkes wegen der Schwere der Verfehlung eine strafrechtliche Ahndung fordert“. Seit dem JGG vom 4.8.1953 gilt wieder die Altersgrenze von 14 Jahren. Zur rechtlichen Situation der Strafmündigkeit in der Europäischen Union ZJJ 2019, 409-411 (grundsätzlich 14 beziehungsweise 15 Jahre, ausnahmsweise 10-12 Jahre, in Belgien und Bulgarien erst mit Volljährigkeit); zur Diskussion um die Herabsetzung der Strafmündigkeitsgrenze Beinder, JR 2019, 554-563 mit dem Vorschlag, die Altersgrenze auf 16 Jahre anzuheben.
3
Allgemein zur Entwicklung eines eigenen Jugendstrafrechts:
DVJJ-Dokumentation Geschichte der Jugendgerichtsbewegung (Sonderheft zum 25. Deutschen Jugendgerichtstag), DVJJ-J 2001; Fritsch Die jugendstrafrechtliche Reformbewegung (1871-1923), 1999; Hubert Jugendfürsorge, Jugendwohlfahrt und Jugendhilfe, 2005; Oberwittler Von der Strafe zur Erziehung? Jugendkriminalpolitik in England und Deutschland (1850-1920), 2000; Schaffstein/Miehe (Hrsg.), Weg und Aufgabe des Jugendstrafrechts, 1975; Simonsohn (Hrsg,), Jugendkriminalität, Strafjustiz und Sozialpädagogik, 2. Aufl., 1969; Voß Jugend ohne Rechte – Die Entwicklung des Jugendstrafrechts, 1986; Wolff Jugendliche vor Gericht im Dritten Reich, 1992; Wolff/Egelkamp/Mulot Das Jugendstrafrecht zwischen Nationalsozialismus und Demokratie, 1997; vgl. auch Dörner Erziehung durch Strafe. Die Geschichte des Jugendstrafvollzugs 1871-1945, 1991.
Zum Jubiläum 75 Jahre Jugendgerichtsgesetz(1923-1998):
DVJJ-J 1998, 3 ff. mit Beiträgen von Chr. Scholz, Peterich, Brehmer ; DVJJ-J 1998, 162 ff.; Sonnen 75 Jahre JGG – Ein Gesetz für die Zukunft?; DVJJ-J 1998, 210 ff. mit Beiträgen von Pieplow und Fleck ; DVJJ-J 1998, 328 ff.; Hübner/Kunath 75 Jahre JGG.
100 Jahre Jugendgerichte – 100 Jahre Jugendgerichtshilfe2008 vgl. Einleitung, Rn 1-5 der 6. Auflage. Eine Momentaufnahme zum 100-jährigen über die Sonderrolle von Jugendrichterinnen und Jugendrichtern zwischen jugendstrafrechtlichem Programm und jugendrichterlicher Entscheidungspraxis präsentiert Jung GA 200B, 599-610.
100 Jahre Deutsche Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen e.V.:
DVJJ (Hrsg), Herein-, Heraus-, Heran- – Junge Menschen wachsen lassen, Dokumentation des 30, Deitschen Jugendgerichtstages vom 14. bis 17.9.2017 in Berlin (2019) mit Beiträgen u.a. von Schumann, E. Die DVJJ und die NS -Zeit, 25-90. Sonnen Schwerpunktthemen vergangener Jugendgerichtstage, ihre aktuelle praktische Bedeutung und künftige kriminalpolitische Weiterentwicklung durch die DVJJ, 629-681 Pfeiffer Jugend 1917 – Jugend 20 17, 643-653. Ostendorf Jugendstrafrecht Ultima Ratio der Sozialkontrolle junger Menschen, 657-681.
3. Geltung in den neuen Bundesländern bis 2010
4
In den neuen Bundesländern ist das JGG durch den Einigungsvertrag mit konkreten Maßgaben in Kraft getreten (Anlage I Kapitel III Sachgebiet C Abschnitt III Nr. 3 – BGBl. 1990 II s. 885J 975). Zu den Maßgaben gehörte u.a. dass an die Stelle des Wortes „Verfehlung“ bzw. „Verfehlungen“ die Worte „rechtswidrige Tat“ bzw. „rechtswidrige Taten“ treten. Statt „Zuchtmittel“ heißt es „Verwarnung Erteilung von Auflagen und Jugendarrest“. Diese Bestimmungen sind inzwischen nicht mehr anzuwenden (Art. 109 Nr. 1b und 1c Gesetz über die weitere Bereinigung von Bundesrecht vom 8.12.2010 [BGBl I 1864, S. 1880]; vgl. Brunner/Dölling § 1 Rn 6c f.).
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