1.4 Offene und verdeckte Äußerungen
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Grds. ist nur angreifbar, was offen ausgesprochen wurde. Eine Ausnahme besteht nur dann, wenn die angegriffene Äußerung in ihrem Gesamtzusammenhang eine verdeckte oder versteckte Aussage enthält. Bei der Feststellung solcher verdeckter Tatsachenist besondere Zurückhaltung geboten.[78] Eine im Zusammenspiel der offenen Aussagen enthaltene zusätzliche eigene Sachaussage des Autors muss die Grenzen des Denkanstoßes überschreiten und sich dem Leser als unabweisliche Schlussfolgerung nahe legen.[79]
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Ein Anspruch auf vollständige Berichterstattungbesteht grds. nicht, zumal die Medien aus einer Fülle von Fakten jene auszuwählen haben, über die berichtet werden soll und auch die Auswahl des „Berichtenswerten“ der Grundrechtsfreiheit unterliegt. In Ausnahmefällen hat der BGH in einer bewusst unvollständigen Berichterstattungeine angreifbare unwahre Tatsachenbehauptung gesehen.[80] Im Übrigen kann dies nur für wesentliche Angaben gelten, die dazu dienen, dem Vorgang in seiner Kernaussage ein anderes Gewicht zu geben. Das kommt allerdings nur in Betracht, wenn sich dem Leser eine im Zusammenhang der offenen Aussagen enthaltene zusätzliche eigene Aussage als unabweisbare Schlussfolgerung aufdrängen muss.[81]
1.5 Rechtsbegriffe und andere Begrifflichkeiten
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Die Sicht des unbefangenen Durchschnittslesers prägt auch das Verständnis von Begrifflichkeiten. So sind z.B. in der Regel Rechtsbegriffenicht im rechtsdogmatischen Sinne zu verstehen, sondern so, wie dies allgemein alltagssprachlich verstanden wird.[82] Die Bezeichnung eines Betroffenen als „Mörder“ bedeutet nicht notwendig, es liege ein Mordmerkmal vor.[83] Das Gleiche gilt für strafrechtliche Deliktsbegriffe wie „Betrug“ oder „Unterschlagung“ oder die Frage, ob mit einem bestimmten Begriff (z.B. „Sabotage“) insgesamt eine strafrechtlich relevante Handlung oder der Vorwurf bewusster Schädigung verbunden sein muss.[84]
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Bei Äußerungen im politischen Meinungskampfist besondere Zurückhaltung geboten beim wörtlichen Verstehen. Gerade z.B. im Wahlkampf sind hastige, aber übertreibende und verzerrende Darstellungen keine Ausnahme.[85]
1.6 Mehrdeutige Darstellungen
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Lange Zeit galt der Grundsatz der „verletzerfreundlichen Auslegung“ als fester Bestandteil des deutschen Presserechts. In seinem Klinik-Monopoly-Urteil hatte der BGH befunden: „Sind mehrere sich nicht gegenseitig ausschließende Deutungen des Inhalts an Äußerungen möglich, so ist der rechtlichen Beurteilung diejenige zugrunde zu legen, die dem in Anspruch genommenen günstiger ist und den Betroffenen weniger beeinträchtigt.“[86]
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Eine grds. Wendung erfolgte durch den Stolpe -Beschluss des BVerfG v 25.10.2005.[87] Für den Fall, dass von einem mehrdeutigen Inhaltauszugehen sei, unterschied das BVerfG zwischen Sanktionen wegen in der Vergangenheit erfolgter Meinungsäußerungen und wegen Sanktionen, die zukünftige Äußerungen betreffen. Bei einer Sanktion wegen in der Vergangenheit erfolgter Meinungsäußerungen verstoße ein Strafurteil oder ein die Verurteilung zum Schadensersatz, zum Widerruf oder zur Berichtigung aussprechendes zivilrechtliches Urteil gegen Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG, weil negative Auswirkungen auf die generelle Ausübung des Grundrechts zu befürchten seien.[88] Ein gleicher Schutzbedarf bestehe indessen nicht bei gerichtlichen Entscheidungen über die Unterlassungzukünftiger Äußerungen. Hier sei im Rahmen der rechtlichen Zuordnung von Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsschutz zu berücksichtigen, dass der Äußernde die Möglichkeit habe, sich in der Zukunfteindeutig auszudrücken und damit zugleich klarzustellen, welche Äußerungsinhalte der rechtlichen Prüfung zugrunde zu legen ist. Eine auf Unterlassung zielende Verurteilung könne der Äußernde vermeiden, wenn er eine ernsthafte und inhaltlich ausweichende Erklärung abgebe, die mehrdeutige Äußerung nicht oder nur mit geeigneten Klarstellungen zu wiederholen.[89]
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Mag diese Rspr. auch pragmatisch und praktisch verfehlt sein,[90] so wird die Praxis doch mit ihr leben müssen. Allerdings hat ein obiter dictum in der Entscheidung des BVerfG zu Gegendarstellungsverlangen gegen mehrdeutige Erstmitteilungen die Möglichkeit der Klarstellung zur Vermeidung einer Unterlassungsverpflichtung noch einmal zugleich betont und ein Stück weit präzisiert.[91] Die Instanzgerichte haben dies bislang nur spärlich aufgegriffen. Unklar sind zudem noch viele Fragen dazu, wie etwa eine solche Klarstellung zu erfolgen hat.[92] Fraglich bleibt, ob die Grundsätze auch außerhalb mehrerer Tatsachenbehauptungen gelten. Für die Abgrenzung zwischen Meinungsäußerung und Tatsachenbehauptung hat das BVerfG dies bereits bejaht.[93] Allerdings könnte auch hier zu differenzieren sein. Maßgeblich für die Anwendung der Stolpe-Rechtsprechung sei, dass die Äußerung als eine geschlossene, aus sich heraus aussagekräftige, allerdings mehrdeutige Tatsachenbehauptung wahrgenommen werde; resultierten konkrete Interpretationsmöglichkeiten erst aus dem Zusammenspiel mehrerer Äußerungen, die für sich betrachtet zulässige Meinungsäußerungen bzw. wahre Tatsachenbehauptungen darstellten, finde die Stolpe-Rechtsprechung keine Anwendung;[94] dies scheint vom BVerfG[95] aber wieder in Frage gestellt zu werden, wenn es heißt, dass das Gericht bei mehrdeutigen Äußerungen die zur Verurteilung führende Bedeutung nicht zugrunde legen darf, ohne vorher die anderen möglichen Deutungen ausgeschlossen zu haben. Diese Textpassage ergibt aus Sicht des Verfassers nur dann Sinn, wenn eine ebenfalls denkbare Interpretation der Äußerung als Meinungsäußerung trotz der Stolpe-Rechtsprechung dann vom Gericht hätte zugrunde gelegt werden können. Höchstrichterlich ungeklärt ist die Anwendung der Stolpe-Rechtsprechung nach wie vor für verdeckte Tatsachenbehauptungen[96].
1.7 Verdacht, Zweifel, Gerüchte
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Wird ein Verdachtoder ein Zweifelgeäußert oder eine Möglichkeit angedeutet oder werden Vermutungen ausgesprochen, kommt es darauf an, ob dadurch der Eindruck einer definitiven Behauptung vermittelt wird. Das gilt auch ähnlich für Gerüchte.[97]
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Fragen unterscheiden sich von Werturteilen und Tatsachenbehauptungen dadurch, dass sie keine Aussage treffen, sondern eine Aussage herbeiführen wollen. Sie sind auf eine Antwort gerichtet. Diese kann in einem Werturteil oder in einer Tatsachenmitteilung bestehen. Fragen selbst lassen sich jedoch keinem der beiden Begriffe selbst zuordnen, sondern besitzen eine eigene semantische Bedeutung.[98] Allerdings sind Fragesätze unter Berücksichtigung des Kontextes und die Umstände der Äußerung auszulegen.[99] Nicht jeder in Frageform gekleidete Satz ist als Frage einzuordnen. „Rhetorische Fragen“sieht der BGH nicht als Fragen im eigentlichen Sinne. Sie bilden vielmehr Aussagen, die sich entweder als Werturteil oder als Tatsachenbehauptung darstellen und rechtlich wie solche zu behandeln sind.“[100] Echte Fragendagegen, die eine Antwort herausfordern, sind nicht am Wahrheits- oder am Richtigkeitsmaßstab messbar. Solche echten Fragen sind nach Auffassung des BVerfG gleichfalls durch Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG geschützt[101] und stehen Meinungsäußerungen gleich.[102] Allerdings kann in einer echten Frage im Einzelfall auch die Äußerung eines Verdachtes liegen, so dass die Grundsätze der Verdachtsberichterstattung Anwendung finden.[103]
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