Ich bin in einem verdammten Albtraum gefangen!
„Hilfe!“, brülle ich aus Leibeskräften gegen den durch die Äste tosenden Wind an, aber mein verzweifelter Ruf findet kein Gehör. Jeder tiefe Atemzug brennt in meiner Lunge und trotzdem starte ich noch einen Versuch: „Hilfe! Hört mich denn niemand?“ Ich lausche angestrengt, doch außer den Geräuschen einer unberechenbaren Natur – pfeifender Wind, knackende Äste, aufeinander reibende, klirrende Eisplatten, knirschender Schnee – umgibt mich nichts … gähnende Leere, keine Menschenseele. Selbst die Tiere haben sich in ihre Löcher, Höhlen, Nester zurückgezogen und halten Winterschlaf oder suchen Schutz vor Kälte und Sturm.
Je länger ich durch den kniehohen, weißen Bodenbelag stapfe, mich durch die dichten, aufwirbelnden Flocken kämpfe, die zwischen den Baumstämmen hindurchpreschen und mir ins Gesicht prasseln, meinem Kinn das Gefühl geben, als verdammtes Stecknadelkissen herhalten zu müssen, und je finsterer es um mich herum wird, umso mehr keimt Angst in mir auf, diese eisige Hölle nicht mehr lebend zu verlassen.
Verdammter Schneesturm!
Verdammte arktische Kälte!
Verfluchte Berge!
Unter der dicken Skijacke, die nicht die Wärme bietet, wie sie vom Hersteller angepriesen wurde, bricht mir der kalte Angstschweiß durch sämtliche Poren und droht mich nur noch mehr auszukühlen. Zudem spüre ich, wie eine körperliche und geistige Erschöpfung auf mich hereinstürzt. Mein Kampf, der Kälte zu trotzen, scheitert kläglich.
Am Ende meiner Kräfte lehne ich mich gegen einen Baumstamm. Meine müden Beine geben nach und ich sacke in die Hocke. Hoffnungslosigkeit treibt mir brennende Tränen in die Augen, die ich mühselig aus den Augenwinkeln presse und die bei der Berührung meiner Wangen zwickend zu Eis erstarren. Ich ziehe die Handschuhe aus, nehme meine Sonnenbrille ab, löse eine der gefrorenen Tränen ziepend von meiner Haut und führe sie mir auf der Spitze des Zeigefingers vor Augen. Ich sehe, wie sich flackerndes, warmes Licht darin spiegelt, bilde mir gar ein, ein wärmendes Kaminfeuer zu riechen. Mühsam blinzle ich gegen die Schneeflocken an, und tatsächlich erspähe ich eine bewohnte Berghütte, keine dreißig Schritte mehr von mir entfernt.
Ich schöpfe meine letzten Kraftreserven, rappele mich wieder auf die Beine und begebe mich auf die noch so kleine, lodernde Flamme im beschlagenen Fenster zu. Sie wächst wie auch die Hoffnung in mir.
Gleich! Gleich bin ich in Sicherheit … in der Wärme.
Mein Blick ist starr auf das durch die überbrückte Entfernung immer größer werdende glühende Holzscheit im Kamin gerichtet.
Das Ziel, die rettende Tür, schon beinahe in Griffnähe, gerate ich auf der festgetretenen und vom Schmelzwasser glasierten Schneedecke ins Schlittern. In meiner Not erfasse ich die Klinke und platze geradewegs mit der Tür ins Haus, lande auf allen vieren auf dem rauen, alten Holzboden. Mollige Wärme schlägt mir entgegen, bringt meine Haut zum Glühen, ebenso wie das irritierte Gesicht des Hausherrn meine Wangen in einem feurigen Rot erstrahlen lässt, als ich verschämt zu ihm aufsehe.
„So…so…sorry. I…ich fr…frie…re.“ Die klappernden Zähne lassen mich stottern. „B…b…bitte gew…währen Sie m…m…mir U…u…unterschl…upf.“
Sein Gesicht liegt halb im Schatten, die andere Hälfte spiegelt das flimmernde Muster des Feuers wider, welches ihm ein mysteriöses Aussehen verleiht, aber dennoch nicht viel von seinen Gesichtszügen preisgibt; einzig seine eisblauen Augen stechen hervor. In den frostigen Iriden flackert Mitleid auf und das kleine Ebenbild der Flamme, die im Kamin lodert.
Der gezwungene Gastgeber macht eine einladende Bewegung zum Cheminée, verschwindet aus meinem Blickfeld und schließt die offene Tür rasch hinter mir zu, damit die Wärme nicht entweichen kann.
Ich krieche über den unebenen, knarrenden Holzboden zum Feuer und lasse mich auf dem cremefarbenen gewobenen Teppich nieder, der sich unmittelbar davor befindet. Gierig strecke ich die Hände der wärmenden Quelle entgegen, setze sie der wohltuenden Hitze aus, die das lodernde Holzscheit ausstrahlt. Ich reibe meine Handteller immer wieder aneinander, puste hinein und führe die lauen Flächen zu meinen Wangen, um auch mein unterkühltes Gesicht zu temperieren. Doch das Schlottern nimmt kein Ende.
„Sie sind ja vollkommen durchgefroren; doch solange Sie in den kalten, durchnässten Sachen stecken, können Sie nicht auftauen … Erst mal müssen wir Sie davon befreien, damit die Hitze direkt an Ihren Körper gelangt …“
In meinem Sichtfeld erscheinen seine Filzpantoffeln. Mein Blick wandert seine ausgewaschene Jeans entlang hoch, gleitet über den schwarzen, gerippten Rollkragenpulli, welcher seinen athletischen Oberkörper und die breiten Schultern bedeckt, und zu guter Letzt, seiner Worte bewusst, sehe ich entgeistert in seine so vertraut wirkenden Augen.
„Das soll keine billige Anmache sein“, weiß er meinen bestürzten Gesichtsausdruck zu deuten und hebt entwaffnet die Hände.
Eigentlich klingt seine Erklärung plausibel, muss ich mir eingestehen.
Mühsam knie ich mich auf und lasse mich erschöpft zurück auf die Fersen sinken. Viele kleine, piksende Nadelspitzen bohren sich in meine Fingerkuppen, meine Handflächen brennen wie Feuer. Ich bin nicht in der Lage, den Zipper meiner Winterjacke zu fassen, geschweige denn die geschlossenen, halb gefrorenen Metallschnallen meiner Skischuhe zu öffnen. Meine Hilflosigkeit treibt mir die Tränen in die Augen.
„Ruhig Blut, Kleine“, dringt es vertraut an mein Ohr. Ich spüre prickelnde Wärme tief in meinem Unterleib aufkeimen, jedoch rührt sie nicht vom flackernden Cheminée-Feuer, sondern von seiner sanften, doch rauchigen Stimme, die mich beruhigend umgarnt.
Der junge Hüttenwart kniet sich vor mich hin, schält mich aus der beinahe starr gefrorenen Jacke, rupft mir die Mütze vom Kopf und entblößt mein langes, schwarzes, glänzendes Haar, das sich in seidenen Wellen über meine Schulter und meinen Rücken ergießt.
Sein schmaler Mund, von einem kurz gestutzten, dunklen Bart umrahmt, öffnet sich zu einem anerkennenden Raunen und nähert sich meinen vor Kälte kribbelnden Lippen. Sein warmer Atem umschmeichelt sie, prickelt auf meiner unterkühlten Haut rund um meinen Mund.
„Deine Lippen sind ganz blau, soll ich sie wärmen?“
War das jetzt eine Aufforderung zum Kuss? Seinem verschmitzten Grinsen nach zu urteilen, ja.
Wie hypnotisiert blicke ich auf den verlockenden Mund, der von feinen Fältchen umgeben ist, wenn seine Mundwinkel zucken, und verspüre tief in meinem Innern ein sehnsüchtiges Verlangen danach.
Nur sein Kuss, seine Nähe, seine Körperwärme können mir Linderung verschaffen!
Ich schließe ergeben die Augen, recke ihm mein Kinn entgegen, erteile ihm somit die stumme Einwilligung. Seine Hände umfassen mein Gesicht und er bläst seinen heißen Atem gegen meine Lippen, zeichnet ihre Konturen nach, verursacht ein aufregendes Kribbeln. Sein minziger Atem sickert in meine Mundhöhle und ich sauge ihn dürstend in mich auf. Plötzlich ist es die Zunge des Fremden, die die Prozedur wiederholt, dem angehauchten Pinselstrich seines Odems folgt, ehe sie sich zwischen meine Lippen drängt, die ausgekühlte Höhle durchforstet und ihr einheizt. Sie gleitet über die oberen Zähne, die wie Eiszapfen von der Decke ragen, und umkreist meine Zunge, hüllt sie in warmen Speichel, kitzelt sie wach, während sich seine weichen Lippen sachte auf meine pressen. Seine Sanftmut und seine Glut dringen tief in mein Innerstes, erwärmen mein Herz und erhitzen mich von innen. Die äußere Hülle, meine Haut, mein Körper, bleibt nach wie vor steif und gefroren und macht sich mit Beben und Zähneklappern bemerkbar. Unweigerlich gerät seine Zunge zwischen meine Zähne, was ihn, im wahrsten Sinne des Wortes, verbissen zurückweichen lässt.
Читать дальше