„Dafür ist auch gesorgt. Ich konnte einen echt heißen Skilehrer engagieren. Samuels Jahrgänger und zugleich bester Freund …“
Dass er in Sams Alter ist, hallt in meinem Ohr nach, derart euphorisch hat sie es gesungen, noch dazu macht es mich stutzig.
„Ein Ass auf den Brettern. Eigentlich fährt Kev ja Skicross-Wettkämpfe. Momentan trainiert er nicht ganz so hart und arbeitet bei uns im Dorf in der Skischule mit.“
Es scheint mir so, als wolle mir Corinne diesen Typen schmackhaft machen. „Sag mal, willst du mich verk…“
Tuut, tuut.
Scheiße! Kein Netz.
Ich tippe eine Nachricht und hoffe, dass sie meine Cousine bald erreichen wird:
Sorry. Funkloch. Holst du mich bitte gegen 11 beim Umschlagplatz ab?
Der beste Freund meines Vetters also. Wie alt ist Sam noch gleich? Corinne ist drei Jahre älter als ich, dreiundzwanzig, und Sam, ihr Bruder, ist wiederum drei Jahre älter als sie. Sechsundzwanzig!
Ein potenzieller Kandidat?
Den wesentlichsten Punkt auf meiner Liste kann ich schon mal abhaken …
Und da dämmert es mir: die Liste. Corinne kennt meine Punkte darauf in- und auswendig. Schließlich ist sie die Initiantin der Do-to-Liste, wie sie sie damals kurzerhand getauft hat.
Nein, hier wurde nichts vertauscht. Corinne hat auch nicht gestottert. Sie heißt, ohne Scheiß, Do-to-Liste. Hergeleitet von: Don’t touch! Im Sinne von: Lass gefälligst die Finger von diesen Typen! Oder in Corinnes Fall: diesem Typ. Sie hat sich tatsächlich nur einen einzigen Namen notiert, der mir aber leider entfallen ist.
Schmunzelnd schaue ich durchs Fenster und genieße die letzten Meter der gewohnten Umgebung. Wehmut ergreift mein Herz. Doch die Tränen, die ich jetzt vergieße, schiebe ich auf die Kontaktlinsen. Sie jucken und brennen. Ich krame ein Spiegelchen aus meiner Handtasche und entferne vorsichtig die Fremdkörper aus meinen Augen. Es ist wohl wirklich an der Zeit, mir diesen Tick abzugewöhnen. Ich setze mir stattdessen die Sonnenbrille auf. So ganz entblößt möchte ich mich meiner Zukunft dann doch nicht stellen …
Der Shuttlezug, auf welchen ich umgestiegen bin, erreicht nach einer zwölfminütigen Fahrt den autofreien Kurort.
Endstation! Ab hier geht’s zu Fuß weiter … für mich jedenfalls.
Ich ziehe mir die Jacke über, ergreife den Rollkoffer und steige aus. Die Luft, die mich empfängt, ist wie erwartet etwas kühler, als ich es aus dem Tal gewohnt bin. Ich atme ein … zweimal, dreimal … sauge sie tief in meine Lungen und gerate ins Schwärmen: Sie ist rein … frisch … kristallklare Bergluft … mit einem Hauch von … Ich schnuppere. Kurze, abgehackte Atemzüge. Pferd? Angewidert ziehe ich die Nase kraus. Pferdemist!
Auf dem Umschlagplatz herrscht reges Treiben. Touristen strömen aus. Nostalgische Postkutschen bespannt mit kräftigen Pferden – daher weht also dieses strenge Aroma, zudem zeigen die dampfenden Pferdeäpfel auf, wie kalt es wirklich ist und dass es meine warm gefütterte Lederjacke gut verträgt –, Elektro-Taxis und E-Busse stehen für den Abtransport der Hotelgäste bereit. Einzige Umweltsünder: Die Helikopter, die am äußeren Dorfrand auf dem Heliport auf einer Anhöhe zur Schau gestellt werden. Eigentlich für Rettungsflüge vorgesehen, doch werden sie auch für Heli-Skiing, Rundflüge, Transporte und, wer’s sich leisten kann, Taxiflüge genutzt.
Ich halte Ausschau nach meiner Cousine. Eine überschwänglich winkende Blondine zieht alle Aufmerksamkeit auf sich. Nicht nur ich fühle mich angesprochen und winke zurück, obwohl sie definitiv mich meint, denn es handelt sich dabei um Corinne.
Sie ist eine attraktive, schlanke Frau mit großen, dunkelblauen Augen, hellblonden, langen Haaren, die mit ihrem Look mal wieder ihr Händchen für Mode beweist. In einer schwarzen, engen Stoffhose, darunter blitzen die Spitzen von ein Paar Lack-Pumps hervor, einem weißen Top und einem hauchdünnen, schwarzen Blazer steht sie dann plötzlich vor mir.
Beim Betrachten ihres Aufzugs stellt’s mir die Haare zu Berge. Mich friert’s regelrecht.
„Irina!“ Corinne fällt mir um den Hals und drückt mir drei Küsschen abwechselnd auf die Wangen … ein Countdown.
Drei, zwei, eins, zähle ich in Gedanken abwärts, und schon nimmt die Modepolizei mein Outfit in Augenschein.
Corinne mustert mich von oben bis unten und kommt zum Schluss: „Gibt’s was zu betrauern? Willst du auf eine Beerdigung? Oder steht dein schwarzer Aufzug symbolisch für den Abschied von deinem alten Leben?“
Wie jetzt?! „Ich dachte, mit Schwarz könne man nichts falsch machen?“
„Stimmt. Aber bei deinem hellen Hautton musst du farbige Akzente setzen, damit du nicht so blass wirkst …“ Neckisch kneift sie mich in die Wange.
„Du predigst mir hier gerade etwas von Farbe. Wo bekennst du denn Farbe? Weiß gehört bekanntlich nicht dazu, Frau Farb-“, ich zeichne Anführungszeichen in der Luft, „und Modestilberaterin!“
„Touché … nein warte …“
Mein siegreiches Lachen weicht einem Flunsch, als sie mir die roten Sohlen ihrer Pumps präsentiert.
„Mach dir nichts draus, Cousinchen. Dafür bin ich ja jetzt da. Ich stehe dir mit Rat und Tat zur Seite. Aber eins“, ihr Zeigefinger schnellt in die Höhe, „muss ich noch loswerden …“
Was kommt denn jetzt noch? Ich verdrehe die Augen.
Ihr Finger stupst den Zipper meiner Jacke an und bringt ihn zum Baumeln. „Die ist etwas übertrieben, findest du nicht?“, spöttelt sie und grinst wie ein Honigkuchenpferd.
„Ich bin die Kälte nicht gewohnt.“ Bibbernd stehe ich vor ihr.
„Kälte? Es ist beinahe zwanzig Grad warm, und du tust gerade so, als wäre es tiefster Winter.“ Sie umfasst den Griff meines Rollkoffers. „Komm, wir genehmigen uns einen Burger in Sams Bar. Dort ist es schön warm!“, zieht sie mich weiter auf.
Na, das kann ja heiter werden …
Hilfe! An das Kopfsteinpflaster in der Bahnhofstraße konnte ich mich gar nicht mehr erinnern. Wie auch, sind Straßen und Wege doch im Winter von festgetretenem Schnee bedeckt. Ich habe mich bei Corinne im Vorhinein lediglich erkundigt, ob die Straßen aper, also schneefrei sind.
Der Rollkoffer klappert über die unebenen Pflastersteine mit den tiefen, zum Teil ausgespülten Fugen und verursacht einen Heidenlärm.
Mann, ist das peinlich!
Corinne scheint’s nicht zu stören, sie lässt ihn munter weiterruckeln. Ich hingegen hätte den Griff längst verstaut und würde mein Gepäck tragen. Die Einheimischen grinsen und nicken Corinne freundlich zu, wissend, dass der Koffer der peinlich berührten Touristin neben ihr gehört.
Eigentlich bin ich ja auch einheimisch, glaubt man meinem Pass, aber ich fühle mich fremd und verloren, etwas fehl am Platz.
Wiederum habe ich keine Mühe damit, die Feriengäste von den Dorfbewohnern zu unterscheiden. Wahrscheinlich liegt es auch daran, dass die meisten der hiesigen Touristen Asiaten sind.
Wie Prozessionsraupen bewegen sie sich fort, und wir befinden uns mitten in ihrem Zug.
Lässig drehe ich mich einmal um 360 Grad, möchte die Umgebung auf mich wirken lassen und bringe dabei die Schar zum Stocken. Doch ich achte nicht auf die bösen Blicke der Passanten. Meine Aufmerksamkeit gilt einzig und allein der verschneiten Bergkulisse und dem einen, prachtvollsten Berg unter ihnen, dem Wahrzeichen des Dorfes, dem Matterhorn, dessen Spitze leider von einer Wolke verdeckt wird. Aber ich werde schon noch in den Genuss kommen, es in seiner vollen Pracht zu bewundern …
Bin ja jetzt für eine Weile hier oder gar für immer?
„Es ist nicht mehr weit. Nur noch fünf Minuten“, höre ich Corinne sagen.
Gut. Ich genieße nochmals die Aussicht und erspähe ein einzelnes majestätisches Haus auf einer Anhöhe. Ein Palast mit Blick aufs ganze Dorf. Wow, staune ich und bin gerade im Begriff, Corinne zu fragen, was es mit dem Gebäude auf sich hat, als ich unfreiwillig gestoppt werde. Der dünne, vier Zentimeter hohe Absatz meines Kitten Heels hat sich zwischen den Pflastersteinen eingehakt.
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