Ich setze mich auf. Mein Blick fällt auf einen Stapel gepackter Kisten, die von einem Umzugsunternehmen in mein neues Zuhause nachgeliefert werden sollen. Toilettenutensilien, Unterwäsche, Strümpfe, warme Kleidung, darunter meinen platzsparend vakuumverpackten Skianzug – sicher ist sicher, schließlich wohne ich von nun an in der Arktis –, Eisbärenabwehr… äh … Paps’ Pfefferspray und, und, und habe ich in meinem Rollkoffer verstaut, den ich neben der Zimmertür abgestellt habe, damit ich ihn nicht vergesse.
Wie graust es mir, in die Kälte ziehen zu müssen, habe ich den kräftezehrenden Winter doch gerade erst hinter mich gebracht. Es ist April. Die Tage werden wieder länger und vor allem wärmer. Im Rhonetal hat der Frühling bereits begonnen. Es grünt, die Blüten sprießen, während die mächtige Bergkette, die uns umgibt, noch in eine Schneedecke gehüllt ist. Einige davon tragen die weiße Pracht das ganze Jahr über. Und jetzt verschlägt es mich ausgerechnet nach Zermatt: 1.000 Meter Höhenunterschied und durchschnittlich gemessene acht Grad kälter, 365 Tage im Jahr Skifahren dank Gletscherpisten. Schon der bloße Gedanke daran lässt mich erschaudern, da brauche ich gar nicht erst aus dem Fenster zu sehen und die noch verschneiten Berggipfel zu betrachten.
Mein Vater lässt meiner Cousine Corinne und mir eine Drei-Zimmer-Mansardenwohnung herrichten. Sie befindet sich im Haus meiner Tante, seiner Schwester.
So ganz lässt er mich also nicht von der Leine.
Seit Mama mit mir schwanger war, pflegte Paps nur noch telefonischen Kontakt zu Marie. Zu seinen Eltern hat er den Kontakt wohl ganz abgebrochen. Soweit ich mich entsinnen kann, hat Paps keinen einzigen Fuß mehr in sein Heimatdorf gesetzt.
Schon als Kind habe ich eher widerwillig meine Winter- beziehungsweise Sportferien bei Tante Marie und ihrer Familie verbracht. Selbst die Skipisten, die Eisbahn, die Rodelbahn, der Kletterpark, das Kino und die vielen Geschäfte vermochten meine Laune nicht zu bessern. Einziger Lichtblick: meine Cousine Corinne, meine beste Freundin.
Obwohl das abgelegene, urige Dörfchen für Touristen einiges zu bieten hat, während der Hochsaison steigt die Einwohnerzahl von 6.000 auf bis zu 35.000 Seelen an, zeigt es auch seine Schattenseiten. In den Wintermonaten ist es manchmal von der Außenwelt abgeschnitten, ausgestorben, falls die Lawine im Spalt des imposanten Bergtrichters ihre Bahn nimmt, die Gleise und die Zufahrtsstraße, die ausschließlich mit Bewilligung befahren werden darf, unter sich begräbt.
Da läuft es mir eiskalt den Rücken runter. Kein Wunder, dass es meine Mutter in die Stadt gezogen hat und mein Vater ihr aus Liebe gefolgt ist. Erst seit dem Tod seiner Frau zieht er es wieder in Erwägung, zu seinen Wurzeln zurückzukehren.
Vielleicht rührt meine Abneigung also auch daher, weil Mama es mir als Kind so eingetrichtert und ihren Unmut auf mich übertragen hat …
Ich sollte die Vorurteile abstreifen und mein Herz für meine neue Heimat – meinen Ursprung öffnen …
Umstrukturierungen beim Bund zwingen Paps dazu, aufs Militärareal zu ziehen und nicht mehr zu pendeln. Mich mitzunehmen stellte keine Option für ihn dar, warum auch immer, und da ich ihm hoch und heilig versprochen habe, mich in die Obhut von Tante Marie zu begeben, gab es auch keinen Grund mehr, die bevorstehende Beförderung zum Major auszuschlagen.
Lauter Männer in Uniform! Lechz!
Schmunzelnd verschränke ich die Arme hinter dem Kopf und lasse mich schwärmend zurück aufs Bett fallen. Paps’ Beweggründe robben gerade vor meinem inneren Auge durch den Schlamm oder sie formieren sich, stehen stramm in tarnfarbenen Anzügen, das Sturmgewehr vorgehängt, in Reih und Glied und salutieren.
„Hauptmann, ich habe dich durchschaut!“, rufe ich laut aus und fuchtle mit dem Zeigefinger.
„Irina. Bist du wach?“, ertönt es gedämpft.
Wenn man vom Teufel spricht!
Paps klopft an und streckt den Kopf durch den Türspalt. „Das Taxi, das dich zum Matterhorn-Terminal bringen wird, fährt in einer Stunde vor. Spute dich, damit du den Shuttlezug nicht verpasst.“ Er runzelt die Stirn, als er meinen erhobenen Zeigefinger sieht.
Ups! Ich grinse ertappt, klappe meinen Finger wie die Klinge eines Schweizer Offiziersmessers zu und stelle den Militaristen in Paps mit einem „Ich komm gleich runter, Hauptmann!“ zufrieden.
Das Einrasten der Tür ist wie ein Startschuss. Ich hüpfe aus dem Bett, ergreife den bereitgelegten Kleiderstapel, bestehend aus einer bequemen Skinny-Jeans und einem gerippten Feinstrickpulli – beides in der Farbe Schwarz, mit welcher man laut Corinne, diplomierte Farb- und Modestilberaterin, nichts falsch machen kann –, und verziehe mich damit ins angrenzende Badezimmer. Gründlich putze ich mir die Zähne, wasche mein Gesicht und bändige meine langen Haare. Mit gewohnten Handgriffen setze ich die dunkelblauen Kontaktlinsen ein und schminke mich.
Meine Augen werden sich wohl nie an die Linsen gewöhnen. Ohne würde ich prächtig sehen, doch eisblaue Augen wirken so kühl und unnahbar. Eine wunderschöne und seltene Augenfarbe, die ich von meinem Vater und dessen Familie geerbt habe, aber sie scheint die Leute ungemein zu verunsichern oder macht ihnen gar Angst. In Paps’ Beruf eine nützliche Eigenschaft, jedoch sind meine Erfahrungen damit eher negativ.
Ich habe meinen ersten und bisher letzten Freund – Date … Speed-Date trifft es noch besser – damit verschreckt, als ich während der Pause einer Kinovorstellung meine Kontaktlinsen entfernt habe, da meine Augen unter der 3D-Brille auszutrocknen drohten. Nach der Vorstellung stotterte Riley etwas von einem Anruf und murmelte eine plumpe Entschuldigung. Er ließ mich wortwörtlich im Regen stehen und brauste mit seinem Auto davon. Eine Art Flucht. Wenn ich es nicht besser wüsste, hätte ich angenommen, der Hauptmann würde dahinterstecken.
Meine Mutter hatte pechschwarzes Haar, wie ich es habe. In der Familie meines Vaters sind alle blond. Paps nannte mich darum oft liebevoll sein Schneewittchen, doch dieses liebliche Kosewort ist ihm nach dem Vorfall mit dem Märchenbuch wohl entfallen.
Die Haut so weiß wie Schnee,
die Lippen so rot wie Blut,
das Haar so schwarz wie Ebenholz
und die Augen so blau wie Gletschereis.
Als ich noch ein kleines Mädchen war, hat er mir erklärt, der Gletscher in unserer Heimat würde bei Mondschein im gleichen Blau leuchten wie meine Augen …
Selbst der Kettenanhänger meiner Mutter, den ich als Andenken an sie trage, ist eisblau und strahlt mit meinen Augen um die Wette. Von den passenden Ohrringen ist seit jeher nur noch einer übrig, welchen ich bei einem Juwelier zu einem Dermal Anchor Piercing habe schmieden lassen. Seit meinem achtzehnten Geburtstag glitzert das Steinchen nun zwischen meinen Brüsten, ganz nah an meinem Herzen …
Fertig angezogen und meinen Rollkoffer in der Hand trete ich meinem Vater gegenüber, um mich von ihm zu verabschieden. Kein Abschied für immer, aber der erste Schritt in die Selbstständigkeit.
„Irina, mach dir nicht allzu viele Sorgen. Du wirst dich bald einleben.“ Mein Vater drückt mich fest an seine Brust und küsst mich, mit einem Hauch von Wehmut in seinem Blick, auf die Stirn. „Vergiss nicht, Marie von mir zu grüßen.“
Ich bin aufgewühlt. In meinem Innern tobt ein Sturm. Ein Sturm der Gefühle. Freudige Erwartung, Bedauern, Heimweh … Klar werde ich meinen Paps vermissen, aber in gewisser Weise freue ich mich auch auf die mir frisch anvertraute Freiheit. Mit meinen bald zwanzig Jahren ist es an der Zeit, flügge zu werden.
Mich nach etlichen langen Telefonaten mit Corinne endlich wieder richtig auszutauschen, von Angesicht zu Angesicht, wird mir mein Heimweh bestimmt vertreiben. Außerdem kann ich mir ihre Erfahrung mit Männern zunutze machen. Nachhilfe in Sachen Liebe sozusagen.
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