Mit Gelegenheitsarbeiten bei Bauern und Karrern hielt er sich über Wasser. Eine feste Anstellung fand er nicht, suchte eigentlich auch keine. Nach einigen Wochen kam er mittellos in die Gegend von Wil. Mit Saufen und Kartenspielen hatte er sein letztes Geld verloren. Seinen neuen Kittel hatte er schon lange gegen einen schlechteren eintauschen müssen, seine guten Schuhe trug jetzt ein anderer. Die Hose war inzwischen schmutzig und hatte Risse. Seine Füsse steckten in schlechten Holzböden, die ihn auf den Zehen drückten und an den Fersen scheuerten. In Schwarzenbach kehrte er in einer kleinen Wirtschaft ein und fragte nach Arbeit, Schnaps und Käse. Als die Wirtin sich in die Küche zurückzog, entdeckte er unter der Ofenbank ein Paar neue Stiefel, die ihm gut gefielen. Rasch probierte er sie an, sie passten. So behielt er sie an und stellte seine schlechten Schuhe an den leeren Platz. Die Wirtin bemerkte den Diebstahl sofort, sagte aber kein Wort. Sie bediente ihn, ging hinaus und verschloss die Türen. Sie schickte den Hausknecht zur Polizei. Der rotgesichtige, strenge Beamte, der mit der Wirtin bald in die Wirtsstube trat, befahl dem verdutzten Johann, die Stiefel auszuziehen, was er ohne weiteres tat. Zwei Polizisten führten ihn nun an einer Kette zum Bezirksamt in der Stadt Wil. Dort wurde er eingesperrt und am nächsten Morgen vom Bezirksammann des Diebstahls und Vagantentums angeklagt. Am nächsten Tag brachte ihn die Polizei nach Wattwil.
Der Armenvogt
Wichtigtuerisch trat Pöstler Roth in die Küche im Haus auf dem Büel. Sein Gesicht war rot angelaufen, und der Schweiss tropfte in den Kragen seines nicht mehr ganz frischen Uniformhemds. Die Uniformjacke trug er vorschriftswidrig offen. Den Hut trug er nicht, den hatte er vor der langen Steigung abgenommen. Er hasste es, wenn er dem Armenvogt eine eilige Depesche bringen musste. Im Sommer kam er ins Schwitzen, und im Winter musste er den weiten Weg durch den Schnee stapfen. Beides war ihm von Herzen zuwider. Die Steigung auf den Büel war anstrengend. Er war nicht mehr jung. Er spürte die Schnäpse vom Vormittag und die Hitze des Sommernachmittags.
«Wo ist der Vogt?», raunzte er die Küchenmagd an.
«Sagt man jetzt nicht mehr guten Tag, oder bin ich dem Herrn Pöstler etwa zu wenig?», gab diese schnippisch zurück.
«Hä, also, guten Tag», grüsste Roth. «Also, wo ist der Vogt?», wiederholte er ungeduldig seine Frage.
«Wo wird er schon sein, denk in seiner Amtsstube», gab ihm Annemarei, die Magd, kurzangebunden Auskunft. Sie mochte Roth nicht. Er behandelte sie immer von oben herab. Dabei linsten seine Augen gierig und lüstern. Er war ein alter Bock. Auch widerte sie seine Ausdünstung nach Schnaps an. Sie traute ihm und seinen haarigen Händen nicht, man hörte so manches von den Mägden auf den anderen Höfen. Sie wollte nicht allein mit ihm in der Küche bleiben. So schob sie ihm einen Stuhl hin und ging rasch hinaus. Ohne Eile schritt sie durch den dämmrigen Hausgang über die kühlen Sandsteinplatten zur Amtsstube des Armenvogts. Nach kurzem Klopfen trat sie ein. Der Raum lag auf der Sonnenseite, neben der guten Stube.
Eigentlich war es die Nebenstube, in der Göldi, der Armenvogt, die Schreibarbeiten erledigte, die sein Amt mit sich brachten. Am Tisch schrieb er mit einem Bläuel in einer Liste. Der Gemeinderat verlangte seit neustem eine Auflistung der ledigen Mütter im Dorf. Sie sollten bei ihren Pfarrern antreten und Auskunft zu ihrem Lebenswandel geben. Von den Kindesvätern war nie die Rede. Göldi fand diese neue Regelung ungerecht und unnötig, aber Amt war Amt, er konnte nichts machen. Immer wieder benetzte er den Stift mit der Zungenspitze, damit er besser schrieb. Wie immer hatte er davon blaue Lippen. Annemarei machte ihn darauf aufmerksam und er lachte.
«Ja, ja, die Arbeit färbt halt ab, bei den einen so, bei den anderen so. Was ist, warum störst du mich? Ich sollte die Liste schon längst geschrieben haben.»
Annemarei wusste, dass ihr Brotherr die Schreibarbeiten gern vor sich her schob. Oft machte er nur einen Entwurf und stellte für die Reinschrift seinen Sohn an. Aber dieser war seit Ostern im Welschland. So musste er wohl oder übel selber den Stift in die Hand nehmen. Als Armenvogt hatte er immer Berichte zu verfassen, die hohen Herren wollten Bescheid wissen. Lorbeeren holte man mit dieser Arbeit keine. Wer kümmerte sich schon gern um Arme und Bedürftige?! Der Gemeinderat beriet lieber über neue Strassen, das Pumpwerk im Bergli, das Spital oder am liebsten über die wachsende Textilindustrie im Ort. Er legte den Stift weg und rieb die schmerzende Hand. Das Ziehen in den knotigen Fingern wurde immer schlimmer. Das Schreiben war einfach nicht seine Sache und er war nicht mehr der Jüngste.
«Also, was ist?», fragte er nochmals.
«Der Roth ist da, er will mit Euch sprechen», meldete Annemarei.
Göldi erhob sich langsam und ging in die Küche, wo der Pöstler gleichmütig auf ihn wartete. Bei Göldis Eintreten zog er sofort einen Umschlag aus der inneren Brusttasche seiner Uniformjacke und streckte ihn dem Armenvater hin. Der Umschlag war zerknittert und fleckig vom Schweiss des Pöstlers.
«Nur langsam, langsam, so eilig wirst du es nicht haben», meinte der Armenvogt. Er legte den Umschlag auf den Küchentisch und ging zum Wandschrank neben dem Herd. Dort öffnete er das obere Türchen mit der grünen Glasscheibe. Da standen einige Flaschen: Kirsch, Pflümli und Chrüter. Göldi nahm die Flasche mit dem Pflümli und zwei kleine Gläser aus dem Fach, stellte alles auf den Tisch und setzte sich. Für sich schenkte er nur zwei Finger breit ein, dem Pöstler füllte er das Glas fast bis an den Rand. Sie prosteten sich wortlos zu. Roth kippte den Schnaps auf einmal hinunter. Er ächzte genüsslich und streckte dem Vogt das Glas hin. Dieser füllte es wieder. Dann setzte er den Korken satt auf die Flasche und stellte sie neben sich auf den Boden. Es war immer die gleiche Zeremonie, zwei Gläser, nie mehr. Das ärgerte Roth, und er nannte den Armenvogt in Gedanken einen Geizhals. Das zweite Glas teilte er in kleine Schlucke ein. Göldi öffnete den braunen Umschlag mit dem grossen amtlichen Stempel und las die vom Schweiss des Boten wolkig gewordene Depesche. «So, so», murmelte er, «der Johann wieder einmal.»
«Ja, hab’s auf dem Amt gehört, der Bleiker, der Galöri. Der wird nie schlauer, mit dem werden wir noch etwas erleben, das weiss ich. Einsperren sollte man den. Richtig, nicht einfach nur ins Armenhaus stecken, einsperren im Käfig», ereiferte sich der Pöstler.
«Na, na», meinte der Armenvogt. «Ist ja auch nur ein armer Tschooli, der Bleiker. Ist halt Schicksal, in welche Wiege einen der Storch legt.» Mit diesen Worten erhob er sich.
Das war das Zeichen für den Pöstler zu gehen. Ungeniert trank er das Restchen Schnaps, das er in Göldis Glas erspäht hatte, aus und stand ebenfalls auf. Miteinander traten sie vor die Haustüre, wechselten einige belanglose Worte zum Wetter und verabschiedeten sich. Roth wischte den Schweiss, den der Schnaps auf seine Stirn und in seinen feisten Nacken getrieben hatte, mit seinem grossen bunten Nastuch weg. Er knöpfte die Uniformjacke zu und setzte den Hut auf die Halbglatze. Zügig schritt er vom Hof und verschwand bald auf dem kiesigen Strässchen im Wald.
Göldi schüttelte den Kopf und ging zurück in seine Amtsstube. Dort las er nochmals die kurze Depesche, die er vom Bezirksamt in Wil erhalten hatte: «Überstellung und Massnahme: Bleiker Johann, geb. 11. Juli 1840 in Wattwil. Sohn der Bleiker Susanne, verwitwete Brunner, Vater unbekannt. Delikt: Diebstahl und Vagantentum. Überstellung zwecks Besserung ins Armenhaus Wattwil. Der Besagte ist fünf Tage in Arrest zu setzen und zwei Jahre im Armenhaus zu verwahren. Ankunft gleichentags um die Vesperzeit.»
Er nahm eine schwarzgrün marmorierte Mappe aus dem Sekretär. Den Namen brauchte nicht zu lesen, der Bleiker hatte schon einige Blätter in der Mappe, sein Sündenregister war lang. Seufzend legte Göldi den amtlichen Bescheid aus Wil dazu und schloss die Mappe in den Sekretär ein. Den Schlüssel barg er in seiner Westentasche. Er legte den Bläuel in ein Fach des schönen Möbels und schob die vorher angefangene Tabelle in ein anderes. Die Liste mit den Unehelichen konnte warten.
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