Monika Rösinger
Novembereis
Monika Rösinger
Novembereis
Historischer Romanaus dem Toggenburg
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Der Bub lag auf den staubigen Brettern des Dachbodens. Durch die Scheibe der Dachluke linsten Strahlen der späten Abendsonne, die jetzt schon langsam über den Hügeln der Laad unterging. Mit einem Wisch Heu hatte er die Scheibe sauber gerieben. Er mochte es, wenn die Sonne die Staubkörnchen in der Luft zum Tanzen brachte oder die Regentropfen Schlieren in die Scheiben zogen. Niemand wusste, dass er oft hier oben in den Tag hinein träumte. Wenn er zu einer Arbeit gerufen wurde, hielt er den Atem an und bewegte sich nicht. Die Frauen im Haus, die Alten im Webkeller oder der Armenvater gaben das Rufen jeweils bald auf. Manchmal setzte es später eine Ohrfeige, aber die war es wert. Die meisten Arbeiten, zu denen er aufgefordert wurde, waren ihm verhasst. Jeder konnte ihm befehlen, alle konnten ihn herumkommandieren. Die Arbeit mit den Tieren im Stall, die er gern getan hätte, war ihm verwehrt; da arbeitete der Koni und der Meisterknecht wollte nicht zwei Buben im Stall.
So verbrachte er seine Zeit neben dem ungeliebten Schulunterricht oft träumend und ohne Ziel. Auch den Konfirmandenunterricht mochte er nicht. Die Buben rückten in der Kirchenbank von ihm weg, sie verachteten ihn, den Armenhäusler. Die Mädchen rümpften die Nasen und kicherten über seine geflickten Kleider und seine borstigen Haare. Der Pfarrer rief ihn nie auf, er blickte ihn nur hin und wieder sorgenvoll an. Gehänselt wurde er nicht, dafür war er zu stark. Er würde es ihnen schon noch zeigen, den Bubis und den blöden Weibern. Ja, das würde er. Seit ein paar Wochen wusste er mehr als sie alle; die hatten ja keine Ahnung. Sein besonderes Wissen hatte er durch ein Astloch im Boden in seinem geheimen Horst erworben. Unter dem Dachboden lag die Mägdekammer und was er da hin und wieder erspähte und hörte, machte ihn trotzig stolz und gleichzeitig unsicher. Manchmal war es einer der Knechte, manchmal einer der jüngeren Armenhäusler, mit denen sich Rosa auf dem Bett wälzte. Er sah weisse Schenkel und rundes, bleiches Fleisch; er hörte zotiges Gemurmel, grobe, unflätige Kraftausdrücke, heiseres Lachen, Stöhnen und unterdrückte Schreie. Auch grobe Schläge fielen auf weisse, dralle Schenkel. All das weckte etwas in ihm, was er nicht beschreiben konnte. Sein Geschlecht regte sich. Es gefiel ihm und gleichzeitig fühlte er sich abgestossen. Er sprach mit niemandem darüber.
Fineli
«Giuseppina, Giuseppina, wo bist du, komm schnell, ich muss dir etwas zeigen.»
Fineli zog die graue Schürze, die bei den gröberen Arbeiten ihr Kleid schützte, aus und zupfte die feine weisse Schürze, die sie darunter trug, zu recht. Sie beeilte sich. Wenn die Signora sie mit dieser Stimme rief, freute sie sich immer. Dann wusste sie, dass es etwas Schönes, etwas Neues zu bestaunen gab. Sie mochte ihre Signora. Sie war glücklich, in diesem schönen Haus, bei Signore und Signora Pelli zu dienen. Die Arbeitstage waren zwar lang, aber nicht allzu anstrengend. Das Haus in Ordnung halten, Gartenarbeit und stete Verfügbarkeit für die Signora. Für die gröberen Arbeiten kam die Emma aus dem Dorf, und in der Küche führte die Köchin das Regiment. Sie hatte ein eigenes Zimmer unter dem Dach und das gleiche Essen wie die Herrschaft. Der Lohn war ordentlich, sodass sie jeden Monat ein Scherflein zurücklegen konnte. Sie stand allein auf der Welt. Ihre Mutter war in der Besserungsanstalt St. Leonhard nach einem elenden Leben an der Ruhr gestorben, sie selber im Armenhaus aufgewachsen. Mit ihrem Vater, diesem Unflat, hatte sie nichts zu tun. Sie war froh, wenn sie nichts von ihm hörte. Jede zweite Woche hatte sie ihren freien Tag und einmal im Monat durfte sie am Sonntagvormittag zur Predigt. Das war weit mehr, als ihre Freundinnen hatten. Diese dienten bei Bauern oder in den Stickervillen. Sie klagten über Rückenschmerzen und hatten wunde Hände vom ewigen Waschen und Putzen. Ihr Lohn war klein, und freie Tage gab es nur an den Feiertagen oder im Frühjahr und Herbst an den Markttagen im Städtli.
Fineli hatte es gut. Bald würde das Leben in der Villa noch schöner werden, die Signora erwartete endlich ihr erstes Kindlein. In zwei Monaten würde es da sein. Der Signore war ganz aus dem Häuschen. Die Herrschaften waren beide nicht mehr ganz jung und glaubten fest, dass Santa Rita ihnen geholfen habe. Als Reformierte glaubte Fineli zwar nicht an die Heiligen, aber sie freute sich mit ihrer Herrschaft. Die Signora musste sich oft schonen, sie war müde und der schwere Leib machte ihre Bewegungen schwerfällig. So sass sie meistens am Fenster und stickte und nähte für ihr Kindlein. Sicher hatte sie jetzt ein Jäcklein oder ein Hemdchen fertig bestickt; Fineli freute sich und eilte die Treppe hinauf in den Salon.
«Vieni, vieni, Giuseppina». Die Signora streckte Fineli ein winziges Hemdchen aus Seide entgegen, das sie mit feinsten Stichen gesäumt und bestickt hatte.
«Ist das schön», flüsterte Fineli und traute sich kaum, das Hemdchen in die Hände zu nehmen. Ach, wie süss wird das Kindlein dann darin aussehen!
Die Signora besass viele feine Stoffe aus ihrer Heimat am Comersee. Ihr Vater war ein behäbiger Seidenbaron und hatte die Tochter nur ungern mit dem Engenero Pelli, seinem Schwiegersohn, in die kalte Schweiz ziehen lassen. Natürlich waren er und Angelinas Mutter stolz auf den gutaussehenden Giorgio, der sich auf die Planung von Eisenbahnbrücken verstand. Er war klug und eine gute Partie noch dazu. Aber die Trennung von ihrer Tochter war nicht leicht. So schickten sie immer wieder feine Stoffe und Spezereien, um ihre Tochter wenigstens aus der Ferne zu verwöhnen.
Giorgio Pelli gehörte zu den Bauingenieuren, die die Eisenbahnlinien in der Schweiz bauten. Seit zwei Jahren lebte er mit seiner schönen Frau im Herrschaftshaus eines verstorbenen Textilpatrons im Ebnet. Er selber beherrschte die deutsche Sprache gut, er hatte nach Bologna in Zürich studiert. Seine Frau lernte die Sprache mit einem alten Lehrer und freute sich über jeden kleinen Fortschritt, den sie machte. Mit Fineli übte sie die schwierigen deutschen Laute, und gemeinsam lachten sie über Fehler und sprachliche Missverständnisse. Fineli mochte es, dass ihre Herrschaft sie Giuseppina nannte, sie fand es vornehm.
Das feinbestickte Hemdchen hatte wahrlich nichts mit ihrer eigenen Kindheit zu tun. Am liebsten hätte sie ihre Herkunft vergessen und für immer zusammen mit den Erinnerungen in einer alten Kiste verschlossen.
Nur an Berta dachte sie gern. Berta war ihre Gotte und die Köchin im Armenhaus. Dieser Frau hatte Fineli es zu verdanken, dass aus ihr etwas geworden war. Die kinderlose Jungfer hatte sie ohne Aufhebens als Gotte in ihre Obhut genommen, als Fineli kurz nach der Geburt durch den Armenvogt ins Armenhaus gebracht worden war. Ihre Mutter galt als liederliche, unstete Person, solchen Frauen war es nicht erlaubt, ihre Kinder selber aufzuziehen.
Finelis Zuhause war die grosse, warme Küche im Armenhaus. Zuerst in einer gepolsterten Seifenkiste, später in einer Zaine, war sie nie von Gotte Berta getrennt. Verdünnte Ziegenmilch aus einer Flasche und später aus ihrem eigenen Becher war die wichtigste Nahrung, die sie zusammen mit ruhiger Liebe von Berta bekommen hatte. Später legte ihr die Köchin grosse gekochte Gemüsestücke hin und brummte lachend über die Unordnung, die rund um Finelis Stühlchen entstand. Mit Berta machte sie die ersten Schrittchen, mit Berta lernte sie den Küchengarten kennen. In den Falten der weissen Köchinnenschürze fühlte sich das kleine Mädchen geborgen, dort erlebte Fineli Sicherheit und bedingungslose Liebe.
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